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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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windig, wie die meisten Tage dieses Monats. Pippa muss von ihrer kleinen Wohnung im Nordosten Londons nach Marylbone, Maggie Reiss, die Psychotherapeutin, in die entgegengesetzte Richtung. Es soll für sie beide ein schwieriger Tag werden.
    Pippas Probleme beginnen um drei Uhr morgens, als ihre Schwester Wendy sie weckt und klagt, ihr sei schlecht. Sie hat eine besondere Angst vor Übelkeit, die noch von ihrer Kindheit herrührt, als sie einmal an die Wände ihres Zimmers erbrach: dunkle Wände, die ihr immer näher zu rücken schienen. Pippa kocht ihrer jüngeren Schwester eine Kanne Tee, und die beiden setzen sich an den Küchentisch und hören mit halbem Ohr eine Radiosendung, in der ein Anrufer erzählt, was er tun würde, wenn er drei Wünsche frei hätte.
    »Wir sollten da mal anrufen«, sagt Pippa.
    »Keine Ahnung, was ich mit drei Wünschen machen würde.« Wendy runzelt die Stirn.
    »Na, mit dem ersten könntest du Kevin umbringen.«
    »Und weiter …?«
    »Keine Ahnung, mit dem zweiten halt noch mal. Und mit dem dritten könntest du uns eine Popcornmaschine oder so was besorgen.«
    Sie lachen. Pippa fasst Wendy am Arm. Anders als Pippa ist Wendy dünn, fast schon abgemagert, und hat feine Gesichtszüge. Pippa erzählt ihr alles, was ihr gerade einfällt. Gegen halb fünf geht es Wendy besser, und sie glaubt, schlafen zu können. Pippa ist mittlerweile so müde, dass sie nicht einmal mehr die Kraft aufbringt, ihren Morgenmantel auszuziehen; sie plumpst aufs Bett wie ein fallen gelassener Koffer.
    Maggie Reiss schläft gut und wacht um halb acht auf. Heute wird sie auf einer Konferenz im Soho Hotel einen Vortrag halten und einen Pilates-Kurs besuchen, und natürlich hat sie auch Kliententermine: den ersten bei einem Supermodel in dessen Haus in Muswell Hill, und dann drei weitere in ihrer Praxis. Für das Privileg eines Hausbesuchs zahlt das Model extra. Maggie geht aus dem Haus und blickt mit einem recht optimistischen Gefühl auf die kommenden Stunden. Dennoch wird es der letzte Tag ihrer therapeutischen Laufbahn sein.
    Pippa ist um acht Uhr wieder auf den Beinen, bereit für den ersten Einsatz des Tages, Teppiche reinigen bei einer Vermieterin, deren letzte Mieter die Wohnung, wie es klang, in einem Zustand hinterlassen haben, den sie sich nicht vorstellen mag.
    Wendy sitzt bereits fix und fertig angezogen am Küchentisch.
    »Pippa?«
    »Wieso bist du schon auf?«
    »Kommst du am Samstag mit mir zum Arzt?«
    »Klar. Warum?«
    Wendy sagt nichts, sondern sieht auf den Tisch oder besser, direkt hindurch auf den Boden, wie es scheint.
    »Ach du liebe Zeit.«
    Pippa setzt sich neben ihre Schwester und überlegt, wer es wohl war, der Typ vom Blind Date wahrscheinlich, dieser Schotte. Du dumme Nuss, denkt sie, sagt aber nichts, sondern legt nur ihre Hand auf die von Wendy und lässt sie dort liegen.
    »Wie …?«
    »Ich glaub, ich hab einmal die Pille vergessen. Oder zweimal.«
    »Wendy –«
    »Ja, ich weiß.«
    »Hast du es ihm schon gesagt?«
    »Er geht nicht ans Telefon.«
    Die Uhr tickt. Pippa wird wie eine Verrückte in die Pedale treten müssen und wahrscheinlich schweißtriefend ankommen, und die Vermieterin wird sie wie immer schief ansehen.
    »Ach, na ja«, sagt Pippa heiter, »vielleicht bist du … vielleicht bist du es ja doch nicht. Vielleicht kommt sie bloß später, oder deine innere Uhr ist aus dem Takt oder weiß der Kuckuck.«
    Wendy nickt, aber dann sieht sie ihrer Schwester in die Augen.
    »Ich bin es, Pippa. Das weiß ich. Ich weiß, dass ich’s bin.«
    Die Wege von Pippa und Maggie kreuzen sich auf der Archway Road; Pippa sitzt auf ihrem Rad, Maggie auf der Rückbank eines Taxis. Maggie sieht kurz auf und registriert Pippas großen Eierhelm, dann widmet sie sich wieder ihren Klientennotizen, die sie auf dem Schoß ausgebreitet hat.
    Ihre erste Klientin des Tages, das Supermodel, das seit vier Jahren an einer Depression leidet, hat keine der Übungen gemacht, die sie ihr letzte Woche empfohlen hat: Sie will bloß, dass Maggie ihr eine weitere große Ration ihrer üblichen Medikamente verschreibt. Die ganze Sitzung über wirkt sie genervt, als wäre Maggie eine Reporterin von irgendeinem popeligen Lokalblatt, die ein paar Minuten in Gegenwart des Stars verbringen darf. Maggies zweiter Klient, der Parlamentarier, der seine Frau mit einer verheirateten Fernsehmoderatorin betrügt, ist ebenso aufmüpfig, wie immer: Eigentlich will er von Maggie nur hören, dass er nichts Unrechtes tut. Für

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