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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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dann alle ganz aus dem Häuschen und haben jemanden gebeten, dieses Foto von uns zu machen, wo wir so tun, als wären wir auf dem Turm und würden die Aussicht bewundern, obwohl wir gar nicht oben waren. Damals war das irgendwie lustig.«
    Pippa sieht sich das Foto genauer an, und Xavier erinnert sich daran, wie sie kurz nach Becs Enthüllung zu viert in einem Yorker Restaurant saßen.
    »Ich dachte halt, mit mir stimmt irgendwas nicht«, sagte Bec, »ich dachte, es klappt nie.« Sie schluckte, mehrmals. Eine Weile sagte niemand etwas.
    »Hey, weinst du jetzt etwa?«, fragte Matilda. »Wir haben dich noch nie weinen sehen.«
    »Eine bessere Gelegenheit wirst du kaum kriegen«, warf Chris ein.
    Bec fing an zu lachen, aber es klang schrill, fast hysterisch.
    »Halt den Mund.«
    »Na los, du Monster«, beharrte Matilda und piekste sie mit dem Finger. »Das ist der schönste Moment in unserem Leben. Los, heul.«
    »Sei still, Mat!« Bec, ungewöhnlich aufgebracht und sogar ein wenig rot, grinste in eine Speisekarte hinein und verbarg ihr Gesicht.
    Sie walzten den Scherz während des ganzen Essens aus, bis Russell irgendwann sagte: »Ich stech ihr mal mit der Gabel ins Auge, soll ich?« Er beugte sich unachtsam über den Tisch und stieß dabei eine Weinkaraffe um, und während ein schmallippiger Kellner mit Chris’ Hilfe die Sauerei aufwischte, prusteten die drei anderen in die vorgehaltenen Hände.
    Die plötzliche Stille zwischen Xavier und Pippa, die etwas Drückendes hat – oder vielleicht bildet er sich das nur ein –, wird von einem Stakkato maschinengewehrähnlicher Schreie von Jamie unterbrochen. Die beiden sehen auf die Dielenbretter, die sich anfühlen, als könnten sie dem Geräusch von unten gerade so standhalten, als wäre Jamies durchdringende, auf einem Ton verharrende Stimme die Spitze einer Bohrmaschine, die gleich durch den Boden dringt und sie angreift. Als nächstes ist Mel zu hören, die flehend um Ruhe bittet.
    »Schon mal dran gedacht, runterzugehen und ihr zu helfen?«
    »Ja, schon, aber es geht mich ja eigentlich nichts an.«
    »Du hältst dich immer fein raus, kann das sein?«, sagt Pippa.
    »Ich misch mich halt nicht überall ein.« Xavier fühlt sich genötigt, seine Untätigkeit zu verteidigen. »Weißt du, ich denke mir halt, was passieren soll, passiert.«
    »Das ist aber eine nette Art zu sagen, das geht mir am Arsch vorbei.«
    »Es geht nicht darum, ob mir was … am Arsch vorbeigeht. Ich glaube bloß – keine Ahnung. Die Leute überschätzen, was sie verändern können.«
    »Ich finde, die Leute unter schätzen das. Du kannst das Leben von jemandem ändern, ohne es überhaupt zu wissen.«
    »Ja, gut. Aber wenn man nichts machen würde, würde es sich wahrscheinlich genauso ändern.«
    Pippa fasst sich an die Knie.
    »Also, ich kann das nicht. Wenn ich mir einfach sagen würde, okay, ich lasse einfach alles so kommen, wie es kommt, dann müsste ich mich damit abfinden, dass ich eine gescheiterte Sportlerin mit Scheißknien bin und putzen muss, bis ich Rente kriege oder vor Erschöpfung tot umkippe.«
    Xavier weiß nicht, was er sagen soll.
    Pippa zieht ein schiefes Gesicht.
    »Tschuldige, Schätzchen. Das war ein bisschen viel. Ich meine, ich putze gern . Es macht mir Spaß, die Beste darin zu sein. Ich würde immer versuchen, die Beste zu sein, egal, was ich mache.«
    »Das bewundere ich«, sagt Xavier leise.
    Es war ein seltsam tiefgehendes Gespräch, und bevor eine weitere Pause entstehen kann, gibt er ihr den vorbereiteten Umschlag, kein peinliches Gekrame nach Geld diesmal. Sie zögern, für einen seltsamen Moment überlegen beide, ob sie einander vielleicht die Hand geben sollen.
    »Ich bring dich zur Tür«, sagt Xavier, und sie gehen die Treppe hinunter. Als Pippa auf ihr Fahrrad steigt, spürt er in sich ein leises Bedauern darüber aufflackern, dass sie geht.
    »Nächste Woche zur selben Zeit?«
    »Nächste Woche zur selben Zeit.«
    Er sieht ihr zu, wie sie kerzengerade im Sattel sitzt und sich die Steigung hochkämpft, wobei sich ihr Kleid in den Speichen zu verfangen droht, und während sie in die Pedale tritt, auf dem steilsten Stück fast aufrecht stehend, stampfen ihre arthritischen Knie, ihre Schenkel, Hüften und Pobacken wie die Teile einer Maschine. Oben angekommen, hält sie an, um ein Auto vorbeirasen zu lassen, und dreht sich kurz um. Xavier winkt ihr und fragt sich, wohin sie wohl als nächstes fährt.

VI Der folgende Mittwoch ist regnerisch und ekelhaft

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