Elf Leben
Existenz komplizierter. »Ich habe sie schon eine Weile nicht mehr gesehen, deshalb glaube ich, sie, äh, sie will bestimmt nicht ausgehen.«
Murray freundliches Gesicht trübt sich.
»Ich meine, vielleicht kommen wir ja danach noch«, beschwichtigt Xavier. »Später, meine ich.«
»Ja. Klar.« Murray macht einen guten Versuch, lässig zu blinzeln. »Das wäre klasse.«
Beide schweigen einen Moment.
»In zwei M-minuten müssen wir wieder drauf. Kaffee?«
Xavier hört seinen Freund durch den leeren, spärlich beleuchteten Flur gehen, mit schweren, irgendwie traurigen Schritten, denkt er, widerspricht sich dann aber: Quatsch, es gibt keine »traurigen Schritte«, das ist nur die übliche Drei-Uhr-morgens-Sentimentalität, und überhaupt, was soll er denn machen, Murray rund um die Uhr an die Hand nehmen und um alle potenziellen Peinlichkeiten herumlotsen? Xavier ist verwirrt und ärgert sich irgendwie über sich selbst; er hat sich in dem Gespräch benommen, als hätte er etwas zu verbergen. Ein paar E-Mails kommen gleichzeitig herein, und er rutscht auf Murrays Stuhl und liest sie, dankbar für die Ablenkung.
Der Samstag ist mild: Die Kälte hat das Jahr endlich nicht mehr ganz so fest im Griff. Xavier wacht früh auf, ausnahmsweise einmal nicht wegen Jamie, und auch nicht nur von schlechten Träumen. Die Wände des Hauses knarren und ächzen sich durch ihre morgendliche Litanei.
Xavier lässt den Tag ruhig angehen und schreibt zwei seiner Kolumnen für die nächste Woche. Er hört sich die Fußballergebnisse an, die ab zehn vor fünf hereinkommen, und dann, um Punkt fünf, die Endergebnisse des Spieltages, die der Ansager so ernst verliest wie eine Liste mit Todesopfern. Der Himmel draußen scrollt sich durch eine begrenzte Palette von Grautönen. Es zieht sich zu, und als Xavier zum Eckladen geht, begrüßt ihn vor der Tür ein matter Regen.
Der Inder ist gut aufgelegt: Seine Tochter hat ihre Verlobung bekannt gegeben, erzählt er Xavier.
»Sehr nette Mann, sehr reich. Sehr reich.« Der Ladenbesitzer kichert los, und zwei weiße Zahnreihen blitzen auf.
»Ich brauche keine …«, setzt Xavier an, denn er hat selbst eine Tüte mitgebracht, aber der Ladenbesitzer, der seine Sachen einpackt, schenkt ihm keine Beachtung und redet stattdessen weiter über das unglaubliche Gehalt des Mannes, der in drei Jahren seine Beerdigung organisieren wird.
Pippa klingelt heute pünktlich; er steht am Fenster und sieht sie die Straße hinunterkommen, in einen zeltartigen, farblosen Regenmantel geschlungen. Ihr Kopf ist gebeugt, als würde sie den regennassen Gehweg vor sich mustern. Sie bewegt sich langsam, nicht so kraftvoll und entschlossen wie sonst.
Xavier stürmt zur Tür.
»Du bist ja ganz nass!«
»Es regnet, Schätzchen.« Sie klingt ziemlich dünn, denkt er.
Xavier geht einen Schritt beiseite, um sie vorbeizulassen.
»Hast du keinen Schirm?«
»Ich hab was gegen Schirme.«
Sie geht die Treppe hoch, immer noch schwerfällig, und zieht dabei ihren Regenmantel aus. Darunter trägt sie einen Pullover mit blau-weißen Querstreifen und Jeans, und Xavier, der hinter ihr geht, erhascht einen kurzen Blick auf ihren Slip, der oben ein Stück hervorschaut: Er hat ein Muster aus knallroten Lippenpaaren.
»Die Dinger sind dauernd im Weg, man rammt die Leute damit, beim kleinsten bisschen Wind schnappen sie um, dann muss man sie irgendwo zum Trocknen hinstellen, und sie tropfen alles voll«, wettert sie, schon in der Wohnung. »Und dann vergisst man garantiert, dass man das blöde Ding dabei hatte, und lässt es irgendwo stehen.«
Xavier, noch auf der Treppe, muss grinsen, denn obwohl er es nicht sehen kann, weiß er genau, dass sie diese Ärgernisse an den Fingern abzählt.
Er geht in die Küche und setzt Wasser auf. Im anschwellenden Rauschen des Wasserkochers tappt Xavier verstohlen in den Flur und sieht, dass Pippa im Wohnzimmer auf das Sofa gesunken ist, den Kopf wieder auf der Brust, als wäre sie eingeschlafen.
»Alles okay mit dir?«
Pippa schreckt hoch.
»Ja, ja. Kümmer dich nicht um mich, Schätzchen. Ich bin bloß ein bisschen müde.«
Xavier bringt ein Tablett mit Tee und Keksen und stellt es vorsichtig vor ihr ab. Er hat einen Verdacht, was den Grund ihrer Müdigkeit angeht.
»Wie geht’s deiner Schwester?«
Pippa sieht langsam hoch, und ihre blassen, fast durchscheinenden Augen haken sich bei Xavier ein.
»Sie hatte nichts Besseres zu tun, als sich ein Kind machen zu lassen. Oder besser gesagt,
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