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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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Jeder, aber auch jeder urteilt über sie. Rogers Blick, als sie aus dem Raum ging. Wie vorher das Model mit ihr geredet und dabei verächtlich ihr dünnes Haar und ihre fahle Haut angesehen hat, als wäre Maggies Alter nicht dem unvermeidlichen Lauf der Zeit zuzuschreiben, sondern einer abwegigen und bedauerlichen Wahl ihrerseits. Der Parlamentsabgeordnete, der sie mehr als Handlangerin denn als ernstzunehmende Fachfrau betrachtet. Sie alle. Letzte Woche beendete ein Klient, nachdem er zwanzig Minuten lang an ihrer Schulter geweint hatte, die Sitzung mit den Worten: »Ach, was wissen Sie denn schon?«
    Im Therapieraum wartet Roger vier Minuten, fünf. Das ist absurd, er zahlt gutes Geld. Er wird sie nicht sofort zur Rede stellen, sondern warten bis zum Ende. Aber er wird es tun.
    Maggie, gerötet und zerzaust, stapft zurück durch den Flur, und als ihr die Empfangsdame mit ihrem Besserwisserschnütchen tröstend zulächelt, spürt sie, wie ihr heiß wird im Nacken. Herrgott noch mal, warum ist der Gang zur Toilette bloß mit einem solchen Stigma behaftet?, denkt sie. Vielleicht sollte man mal einen Aufsatz darüber schreiben, oder gleich ein Buch. Genau das sollte ich tun. Wieder Bücher schreiben. Genug von alledem hier. Ich hab das nicht nötig.
    Roger meidet ihren Blick, als sie das Zimmer betritt. Sie kommen zum Ende. Maggie empfiehlt einige Strategien, die Roger helfen könnten. Sie könnte genauso gut ein Omelettrezept aufsagen. Sie vereinbaren, dass Roger weiterhin ein Johanniskraut-Präparat einnimmt, er fühlt sich wohler mit etwas Pflanzlichem, der Gedanke an Medikamente behagt ihm nicht, bla bla bla …
    »Haben Sie besondere Wünsche hinsichtlich der Zahlungsmethode«, fragt Maggie, der übliche Euphemismus für ›Geben Sie mir jetzt mein Geld‹, »oder …?«
    Roger räuspert sich, fingert an seinen Manschetten.
    »Dr. Reiss, ich …«
    Was denn, denkt Maggie, mehr als aufgebracht. War es denn das jetzt immer noch nicht mit diesem blöden, endlosen Tag?
    »Dr. Reiss, ich war mit Ihren Diensten heute nicht ganz zufrieden.«
    »Sie waren … wie bitte?«
    Roger schluckt. Ja, jetzt sag ihr die Meinung.
    »Ich fand Sie unprofessionell. Sie kamen zu spät zu unserer Sitzung – deutlich zu spät –, schienen mit den Gedanken woanders zu sein und haben mittendrin für eine Weile den Raum verlassen, und jetzt machen wir gute drei Minuten früher Schluss. Wissen Sie, ich habe ja Verständnis dafür, dass wir alle einmal einen schlechten Tag haben …«
    »Einen schlechten Tag!«, äfft Maggie ihn nach und muss fast lachen. Diese Witzfigur, was glaubt der eigentlich, wer er ist, mit seinen Customer-Relations-Phrasen, seinen unmöglichen Hosen und seinem entsetzlichen Mundgeruch?
    »Was ich damit sagen will …« Roger zögert, was will er eigentlich sagen? »Ich würde mir wünschen, beim nächsten Mal eine Verbesserung festzustellen.«
    Das ist zu viel. Maggie erhebt die Stimme.
    »Wissen Sie was? Behalten Sie Ihr Geld. Behalten Sie es einfach. Und kommen Sie gar nicht erst wieder. Suchen Sie sich jemand anders.«
    »Dr. Reiss …« Roger ist erschrocken. Er fand, die Aussprache läuft gut. Er war zufrieden mit der Art und Weise, wie er sich ausgedrückt hat. Genau deshalb hatte er eine Therapie so lange zu umgehen versucht, genau davor hatte er sich gefürchtet, Aufregung und Theater.
    »Dr. Reiss …«
    Aber Maggie hat schon die Tür aufgestoßen und ist mit der konfusen Zielstrebigkeit einer Betrunkenen hinaus in den Flur marschiert.
    »Sagen Sie alles ab«, sagt Maggie energisch zu der Empfangsmitarbeiterin, deren Dauerlächeln ausnahmsweise einmal erlischt.
    »Was?«
    »Sagen Sie alles ab. Ich will nichts mehr damit zu tun haben.«
    Sie wartet nicht auf den Aufzug, sondern geht zielstrebig zum Notausgang und rennt die drei Stockwerke fast hinunter; laut knallen ihre Schritte auf den selten benutzten Steinstufen durch das Treppenhaus. Vielleicht hätte sie noch fünfzehn Jahre so weitergemacht und den Job gehasst, vielleicht hätte sie morgen sowieso alles hingeworfen, aber jetzt ist der Moment – weil Roger sich über ihren Gang zur Toilette geärgert hat, weil er verstimmt war wegen einer SMS , versehentlich an ihn geschickt wegen eines ungewohnten Handys, das im Einsatz war, weil ein anderes Handy gestohlen wurde, weil ein Junge im Restaurant gefeuert wurde infolge eines Wutanfalls, hervorgerufen durch eine schlechte Zeitungskritik, die angeheizt wurde vom Zorn über eine Prügelei, die

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