Elf Leben
Xavier an jenem kalten Tag vor ein paar Wochen nicht verhindern konnte.
Während Maggie in die U-Bahn steigt und sich innerlich eine Ansprache an ihren Mann zurechtlegt (›Wir müssen unser Leben genießen, wir können es uns leisten, das alles hinter uns zu lassen, lass uns irgendwohin gehen, irgendwas machen‹), bereitet Xavier die Mittwochabend-Sendung vor. Sie werden über Begegnungen mit Prominenten reden, ›Stars hautnah‹ lautet das Motto – ein unbeschwertes Thema heute Abend, da die Anrufer mittwochs offenbar einen Durchhänger haben und oft merklich weniger schwungvoll sind als sonst. Roland, ihrem Chef, ist ein humoriges Thema immer recht; dann ist die Gefahr geringer, dass Murray in irgendeinen Fettnapf tritt, wie er Anfang der Woche zu Xavier sagte.
Gegen Ende der Sendung, eine Minute vor drei, drückt Murray den Knopf, um die vorletzten Nachrichten abfahren zu lassen. Die vergangenen Stunden sind in einem angenehmen Fluss von Promi-Anekdoten dahingeplätschert, wobei die vielleicht interessanteste von einem Anrufer kam, der einmal mit Terry Waite im Aufzug festsaß, einige Jahre vor Waites deutlich länger währender Gefangenschaft durch islamistische Terroristen in Beirut. »Murrays Nachtgedanken« gingen ganz gut über die Bühne; auf Xaviers Rat hin vermied er jede Anspielung auf den aktuellen Prozess gegen einen Mann, der seine Kinder im Keller gefangen hielt, und griff stattdessen noch einmal die Piraten auf, die diese Woche zum Glück wieder für Schlagzeilen sorgten.
»Und, irgendwas vor am W-w, am Wochenende?«
»Nicht so richtig.« Xavier trinkt einen Schluck Kaffee. »Ein paar Filme. Hab einiges zu tun, Kolumnen und so. Und du?«
Murray spielt mit einer Strähne seines Lockenkopfes, der im Moment fast wie toupiert aussieht.
»Meine, äh, meine Schwester gibt am Samstagabend eine P-party. Willst du mitkommen?«
Xavier sieht aus dem Fenster auf den Parkplatz mit seiner bedächtigen Pantomime: Der Hausmeister, mit blutunterlaufenen Augen und einer Kippe in der Hand, zählt die Minuten bis zum Feierabend, und der Fuchs schleicht um die Container, im Maul eine halbe McDonald’s-Schachtel. Xavier merkt, dass das weniger eine Einladung als vielmehr eine Bitte ist; Murray will ihn wieder einmal als Lockvogel gewinnen, um Frauen kennenzulernen. Immerhin hat er es sich mittlerweile fast abgewöhnt, Xavier mit den Worten: »Wir machen zusammen eine Radiosendung« vorzustellen (oder wie dieses eine schauderhafte Mal: »Das ist der berühmte Xavier Ireland.«) Trotzdem hat Xavier wenig Lust auf die Party.
Aber der Gedanke an Murray, der allein in irgendeiner Ecke herumsteht, plump in Gespräche einhakt und in Ermangelung eigener Bonmots übereifrig Filmzeilen oder Slogans aus Comedy-Sendungen zitiert … Xavier kann es sich allzu leicht vorstellen. Besonders hasst er die Vorstellung, dass die Leute hinter Murrays Rücken über ihn reden und einander mit hochgezogener Augenbraue erleichtert ansehen, wenn er in einen anderen Raum geht.
»Klingt gut«, sagt Xavier.
»Klasse.« Murray klingt beruhigt. »Das wird ein super Abend! Sie hat so eine Bekannte, die hat gerade als Vertretung oder so was angefangen, die kommt hoffentlich auch. Ehrlich, Xavier, du glaubst nicht …« Er schüttelt den Kopf und macht mit den Händen eine vage Geste, die wohl zwei üppige Brüste darstellen soll.
»Du bist ein echter Romantiker, Murray.«
Murray lacht.
»Also, ich wollte mir ein Taxi nehmen, damit ich …« Diese Geste – Hände, die imaginäre Bierdosen Richtung Kehle kippen – ist leichter zu entschlüsseln. »W-w-w-wenn ich also vorbeikomme und dich abhole, sagen wir, so gegen …«
Plötzlich fällt es Xavier wieder ein.
»Ach. Mist. Hör mal, ich kann doch nicht, ich bin … es kommt jemand vorbei am Samstagabend.«
»Es kommt jemand vorbei?« Murray zieht verdutzt die Augenbrauen hoch. »Eine … e-eine Frau?«
»Nein, nein, äh, also, doch«, stammelt Xavier, »schon eine Frau, aber keine … sie ist nur eine …« Wie soll er erklären, dass eine Frau zu Besuch kommt, um am Samstagabend seine fast saubere Wohnung zu putzen? »Sie ist nur eine Freundin.«
»Na, dann bring sie doch einfach mit.« Xavier sieht, wie sich dieses Problem in Murrays hoffnungsvollen Augen in eine Gelegenheit verwandelt. »Ist sie … also, ist sie …?«
Xavier verzieht das Gesicht.
»Es wäre keine gute Idee, sie mitzubringen.« Die Lüge, wenn es denn eine ist, wird schon mit jeder Sekunde ihrer
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