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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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liegt nicht auf dem Boden.
    Die dünne Schicht der Verleugnung schmolz sehr schnell dahin, Panik und Horror schwappten in Wellen durch Chris’ Körper und drückten ihm die Kehle zu – Horror, ein Wort, dessen Tragweite er erst jetzt wirklich verstand. Michael lag reglos und still auf dem abgewetzten Teppich, den Kopf zur Seite gedreht, von Chris abgewandt, und die kleinen, pummeligen Ärmchen und Beinchen schlaff von sich gestreckt. Er sah aus wie eine liegen gelassene Plastikpuppe auf dem Boden eines Kinderzimmers.
    Chris fiel auf die Knie, seine Beine fühlten sich an, als wäre alles Blut aus ihnen abgelassen worden. Er versuchte, etwas zu sagen, aber es kam einfach kein Wort heraus. Um Himmels Willen, dachte er, nein. Er konnte sich schon nicht mehr erinnern, was passiert war, wie das Baby da auf den Boden kam. Wie kann man ein Baby fallen lassen? Wie kann man es auf dem Arm halten und dann nicht mehr? Diese Frage würde Matilda ihm stellen, Bec und Russell würden sie einander Hunderte Male stellen, und natürlich würde er sie sich für den Rest seines Lebens stellen. Aber es gab keine Antwort.
    Er wählte den Notruf und schrie die unangemessen fröhliche Frau am anderen Ende an. Sie fragte, ob Michael noch atme, und er sagte, keine Ahnung, und hatte das Gefühl, er müsste sich jeden Moment übergeben. Er solle versuchen, den Puls zu fühlen, sagte sie. Chris glaubte, gleich ohnmächtig zu werden. Er traute sich nicht, Michael zu berühren. »Jetzt schicken Sie doch einfach einen Scheißkrankenwagen!«, schluchzte er noch einmal. Er legte einen Finger auf Michaels Handgelenk, das beängstigend kalt war, aber er konnte ihn nicht ansehen. Er glaubte, einen Hauch von einem Puls zu spüren, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Auf allen Vieren neben dem Baby brach Chris in Tränen aus.
    Kaum in der Lage, den Telefonhörer scharf zu sehen, rief er Matilda an, dann Russell und dann noch einmal Matilda – eine Weile hörte keiner von ihnen im Lärm der riesigen, sich zerstreuenden Menge sein Handy. Schließlich erwischte er Russell.
    »Mann, war das geil!«, schrie Russell, bevor Chris irgendetwas sagen konnte.
    Aber dann konnte er gar nichts sagen. Er schluchzte und schrie, gab Geräusche von sich, die er nicht mit sich in Verbindung bringen konnte.
    »Ich versteh dich nicht, Kumpel!«, sagte Russell, immer noch quietschvergnügt, wie üblich der Letzte, der irgendetwas mitkriegt, und gab das Telefon weiter an Bec, damit sie ihr Glück versuchte.
    Chris gab nur einen einzigen Laut von sich, und Bec wusste Bescheid.
    Irgendwie schaffte es Bec vor allen anderen nach Hause, sogar vor dem Krankenwagen. Der Moment, in dem sie Chris ihr bäuchlings daliegendes – wenn auch noch atmendes – Baby entriss, wirklich entriss wie einem Dieb etwas, das einem lieb und teuer ist, war unweigerlich der Anfang vom Ende einer fast lebenslangen Freundschaft. Ihre gemeinsame Vergangenheit war mit einem Schlag zunichte.
    Michael blieb drei Wochen im Krankenhaus. Erst sah es aus, als würde er sich gar nicht erholen. Schließlich schaffte er es doch, aber mit mehreren Schädelverletzungen und einem bleibenden Hirnschaden. In dieser Formulierung hörte Chris zuerst davon, von Matilda: »Hirnschaden«, ein Wort wie eine Handvoll Draht. Wochenlang musste ihn Matilda über alles auf dem Laufenden halten. Er konnte nicht ins Krankenhaus gehen; mit zweien seiner drei besten Freunde konnte er weder sprechen, noch konnte er sie sehen. Zu dem Zeitpunkt dachte er, soweit er das Ganze überhaupt erfassen konnte, all das sei eine vorübergehende Situation – langwierig vielleicht, aber zeitlich begrenzt. Es war ein schreckliches Unglück und würde ganz sicher den Rest ihrer aller Leben überschatten, aber irgendwann mussten sie ihm vergeben, ganz sicher.
    Er merkte jedoch recht bald, dass es um »vergeben« nicht ging. Aus Wochen wurden Monate. Die Geschichte erlangte im Umkreis traurige Berühmtheit: Ermittlungen wurden eingeleitet, sogar ein Strafverfahren stand im Raum, und es gab endlose Befragungen. Immer und immer wieder musste Chris mit ausdrucksloser Stimme schildern, wie er den Jungen, ja, fallen lassen hatte, er konnte es sich einfach nicht erklären, es war ein schrecklicher Unfall. Natürlich wollten Bec und Russell nicht, dass ihm etwas passierte; sie taten nur, was sie jetzt tun mussten. Einmal begegneten sich Chris und Russell vor der Kanzlei von einem der beteiligten Anwälte. Beide sahen weg.
    Am Ende wurden

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