Elf Leben
Matilda eines Abends, als erwarteten sie ein Baby.
Der Abend, der der schlimmste in Chris’ Leben werden sollte, begann damit, dass er seinen Freunden einen Gefallen tun wollte. Die Viererbande hatte Konzertkarten für eine bekannte Rockband in der Vodafone Arena; Bec hatte sie Monate zuvor besorgt, als Michael noch gar nicht richtig existierte, als er nur eine Zukunftsaussicht war. Jetzt war Michael ein zwei Monate altes, friedliches Baby, das zu lächeln begann wie sein Vater. Das Konzert an jenem Abend würde das erste Mal seit der Geburt sein, dass Bec und Russell ausgingen. Bec hatte Michael schon an das Fläschchen gewöhnt, so dass es eigentlich keinen zwingenden Grund für sie gab, bei Michael zu bleiben, und alle waren sich einig, dass sie sich eine Pause verdient hatte; die Strapazen der letzten Wochen standen ihr ins Gesicht geschrieben.
Alles war geplant, aber es fand sich einfach kein Babysitter.
Zuerst war Matilda entsetzt, als Chris anbot, bei Michael zu bleiben.
»Die Karten haben sechzig Dollar gekostet!«
»Wir können meine doch verkaufen. Wir kriegen sogar viel mehr dafür. Du kannst ja für einen Abend unter die Schwarzhändler gehen.«
»Ich will dich aber auch dabei haben.«
»Ja, ich weiß, aber Bec muss mal raus. Du hast doch gesehen, wie sie aussieht.«
Matilda küsste ihn.
»Du bist unglaublich, weißt du das?«
»Ganz meine Meinung.«
Chris bekam ein paar Anweisungen, aber mal im Ernst, was gab es denn schon zu tun? Er sollte sich irgendwo in der Nähe des Babys aufhalten, das in Becs und Russells Schlafzimmer schlafen würde. Wenn es anfing zu weinen, sollte er es hochnehmen, ihm sein Fläschchen geben und es halten – dann würde es gleich wieder einschlafen. Ach so, und immer schön auf den Rücken legen, aber er sei ja nicht blöd. Wickeln, sagte Bec, sei wahrscheinlich nicht nötig. »Kann ich aber auch, wenn doch«, sagte Chris stolz; er hatte das schon einmal gemacht, in der dritten Woche, als Bec schlief und Russell vor Müdigkeit nur noch teilnahmslos dahockte. Matilda und Chris waren den jungen Eltern in den ersten vierzehn Tagen kaum von der Seite gewichen, hatten dieses und jenes eingekauft, besorgt und alle möglichen Wege erledigt.
»Wenn er richtig schlimm weint, simst du mir, ja?«
»Den Teufel wird er tun«, sagte Russell und nahm Bec schnell das Handy ab. »Sonst stehst du schon wieder hier auf der Matte, bevor die den ersten Ton gespielt haben. Du brauchst mal eine Pause.«
Nach all dem Gerede, dem endlosen Bohei um Schwangerschaft und Geburt war Russell sichtlich erpicht darauf zu zeigen, wie gelassen sie immer noch waren, wie wenig dieses neue, hilflose Familienmitglied ihr Leben beeinträchtigen würde. Er begann zu singen, oder eher zu brummen. Matilda trug ein Fanshirt der Band, das sie als Teenager gekauft hatte, und eine Tasche, deren Gurt ihren Busen zweiteilte. Chris stellte sich vor, wie jemand in dem Wald aus Armen und Körpern vorn vor der Bühne gegen sie stieß, und während sich die drei auf den Weg machten, bereute er seine Gutherzigkeit für einen Moment.
»Dann schick Russell eine SMS , wenn er richtig schlimm weint«, rief ihm Bec noch durch die sich schließende Tür zu, aber Chris war fest entschlossen, es nicht zu tun.
Chris saß im Schlafzimmer seiner Freunde, in dem Fotos der vier hingen; das aus York zum Beispiel. Auf einem anderen waren sie im Zoo, wo sich Russell, auf dem Bild im Gorillakostüm, eine Weile erfolglos als Kinderunterhalter versucht hatte. Russells Absolventenfeier. Anderthalb Stunden lang passierte gar nichts; Chris las in einem von Becs Büchern über ethisch korrektes Einkaufen, und die Ruhe war fast schon unheimlich. Michael in seinem getigerten Strampler schlief, das Däumchen an den Mund gedrückt, und sah aus wie in einer Fernsehwerbung für Bettzeug. Seine winzigen Lippen zuckten im Takt mit den flachen Atemzügen. Ab und zu murrte er vor sich hin. Chris wurde klar, dass dieser Winzling, so unmöglich das jetzt erschien, eines Tages so alt sein würde wie er, und Chris selbst wäre dann ein Mann mittleren Alters. Sie könnten zusammen ein Bier trinken gehen.
Aber dann begann Michael zu weinen. Es begann mit kratzigen Schreien, die zu hustenden Schluchzern verebbten und wieder anschwollen. Chris beschloss, es auszusitzen – Babys weinten nun einmal. Michaels Schreie wurden doppelt so laut und eindringlich. Vielleicht hat er Schmerzen oder so, dachte Chris, zum ersten Mal beunruhigt. Er versuchte, sich
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