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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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die Ermittlungen eingestellt: Das Gericht entschied, dass Michaels Verletzung ein Unfall war. Die Leute hatten so ihre Ansichten. Was für Eltern gehen auf ein Konzert, wenn sie zu Hause ein Neugeborenes haben? Und wie kann man so unvorstellbar sorglos sein, das Wertvollste auf der Welt fallen zu lassen?
    Chris ging nicht mehr aus dem Haus. Er konnte sich keine Filme ansehen und sich nicht auf Bücher konzentrieren, nicht einmal auf das Fernsehen. Er schrieb keine Filmkritiken mehr und lebte von Arbeitslosengeld. Wochenlang ging er nur noch vor die Tür, um sich seinen Scheck abzuholen. Fast mit jedem Tag, den er an sich vorbeiplätschern ließ, fiel es ihm schwerer sich vorzustellen, wieder an seine Aktivitäten von vorher anzuknüpfen. Je weniger er tat, desto müder wurde er. Während das Leben aller anderen nach dem Unglück wieder begonnen hatte oder in vollkommener Unkenntnis davon weiterraste, hatte Chris das Gefühl, seines sei einfach stehen geblieben; er war ein Zuschauer geworden.
    Matilda verfiel ins andere Extrem und stürzte sich mit einer kühlen, untypischen Effizienz in alle möglichen Aufgaben. Sie ging fünfmal pro Woche Trampolinspringen statt zweimal, machte freiwillig immer mehr Überstunden, interessierte sich nicht für Filme und sagte ab, wenn sie auf Partys eingeladen wurde. Vieler ihrer liebenswertesten Eigenarten schienen von den Ereignissen niedergewalzt worden zu sein. Statt ihrer unverwechselbaren Knitter-T-Shirts und ihrer herrlich schrägen Accessoire-Kombinationen trug sie jetzt Rollkragenpullover und lange Röcke – sie kleidete sich im Grunde wie Bec. Sie stocherte auf ihrem Teller herum und aß nie auf. Sie lief nicht mehr nackt durch die Wohnung. Sie fluchte kaum noch. Sie fing wieder an zu rauchen, dabei hatte sie als Teenager damit aufgehört. Die paar Male, als Chris und sie sich lange genug sahen, um miteinander zu reden, bestand sie darauf, dass er sie ›Matilda‹ nannte, nicht ›Mat‹. Sie schlief oft bei Bec. Wenn sie zu Hause übernachtete, lagen Chris und sie mit offenen Augen im Bett, jeder auf seiner Seite.
    Bec und Russell machten eine Therapie; die Psychologin, zu der sie damals wegen ihrer Sexualprobleme gegangen waren, hatte ihnen jemanden empfohlen. Auch Matilda nahm an den Sitzungen teil, sprach aber hinterher nie mit Chris darüber. Eines Tages kam sie viel später zurück als erwartet. Es war ein schöner Frühlingsabend: Flugzeuge surrten faul über ihrer Wohnung, Büroangestellte schlürften in Dachterrassenbars mit hochgekrempelten Ärmeln Cocktails, und die gedämpften Klänge eines Open-Air-Konzerts ein paar Straßen weiter wehten zu Chris herüber. Von einer flüchtigen Welle des Optimismus erfasst, wollte er Matilda umarmen, als sie hereinkam. Sie schüttelte ihn ab, setzte sich an den Küchentisch und spielte an einem Armband herum, das locker um ihr Handgelenk hing.
    »Und, wie war es heute?«
    Sie zuckte die Achseln.
    »Was glaubst du denn, wie es war?«
    »Na ja, ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
    Matilda warf einen kurzen Blick in einen Taschenspiegel, kratzte irgendwas von der Tischplatte und sah auf ihr Handy.
    »Bitte, Mat. Matilda. Bitte sieh mich an.«
    Sie fixierte ihn mit zwei großen Augen.
    »So, bitte. Besser?«
    »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
    Matilda biss sich auf die Lippe und rieb sich energisch über die Augen.
    »Weißt du, nachdem es heute vorbei war, hat Bec geweint, und zwar eine ganze gottverdammte … über eine Stunde. Über eine Stunde! Ich saß einfach nur da, und sie weinte an meiner Schulter. Bec! Sitzt da und weint wie ein …«
    Chris saß ihr hilflos gegenüber und versuchte, sich die Szene vorzustellen.
    »Und Russell nimmt Antidepressiva. Wusstest du das?«
    »Ich fühl mich genauso schrecklich, Matilda.«
    »Ich sag ja nicht, dass es dir nicht schlecht geht. Das hier ist kein Wettbewerb. Ich will bloß sagen – ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie das je besser werden soll. Weiter nichts.«
    Von irgendwoher holte Chris seine Stimme hervor.
    »Es wird besser, weil … weil alles besser wird. Die Zeit …«
    Matilda setzte sich neben ihn und nahm, fast schon grob, seine Hand. So aufgewühlt hatte er sie noch nie erlebt. Er spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte.
    »Du musst ausziehen«, sagte sie.
    »Was?«
    »Ich kann das so nicht.«
    »Meinst du, ich kann es besser?«
    Matilda schluckte und sah ihn an, und innerhalb weniger Momente zogen ihre zwanzig gemeinsamen Jahre vor

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