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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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in die Rolle eines Vaters hineinzuversetzen. Vorsichtig nahm er das Baby hoch. Michael war überraschend leicht für ein lebendes Wesen, es war kaum etwas dran an ihm. Als er Chris’ Hände spürte, legte er erst richtig los. Die Schreie bauten aufeinander auf, wie Musikfetzen, unterteilt in einzelne Takte, und gipfelten jedes Mal in einem markerschütternden Crescendo, der reinste Ausdruck von Schmerz, den Chris je gehört hatte. Scheiße, dachte er, und sein Herzschlag beschleunigte sich, deshalb soll man sein Kind nicht weggeben, deshalb bleiben Eltern immer monatelang bei ihren Neugeborenen, Nacht für Nacht. Er geriet zwar nicht in Panik, aber die Knoten der Angst in seinen Eingeweiden zogen sich fester zusammen.
    Langsam ging er durch die Wohnung. »Ist doch alles gut!«, flüsterte er Michael zu, »Mum und Dad sind gleich wieder da! Gleich sind sie wieder da!« – und so weiter, mehr zu seiner eigenen Beruhigung, dachte er. »Ist ja gut, Michael!« Hatte sie nicht gesagt, trag ihn einfach herum, und er schläft wieder ein? Es ist ja nicht so, als wäre ich für ihn ein Fremder, ich habe schon fast soviel Zeit mit ihm verbracht wie die beiden. »Stimmt’s, Michael, du kennst mich doch, du kennst mich!«, sagte Chris bittend. »Wir machen heute einen Männerabend, nicht wahr?« Er hatte seine anfängliche Hemmung verloren, mit dem verständnislosen Bündel in seinen Armen zu sprechen. »Wir sind doch alte Kumpels, nicht wahr, Mike!« Aber Michael zeigte sich unbeeindruckt. Er schrie. Anders konnte man es jetzt nicht mehr nennen. Bis zu diesem Moment wusste Chris nicht, was Schreien ist.
    Chris ging schneller, drehte Runden in der kleinen Wohnung, ging hinaus auf den vollgestellten Balkon und wieder hinein, um das abgewetzte Sofa herum, durch das Wohnzimmer mit den riesigen gerahmten Filmplakaten: Jules und Jim und Es geschah in einer Nacht , Becs Lieblingsfilme, dazu RoboCop , der Favorit von Russell. Die plötzliche Geschwindigkeit schien Michael ein wenig zu besänftigen, und Chris, das Baby in den Armen, sank in einen Sessel und schlug die Beine übereinander. Michaels messerähnliche Schreie waren zu kleinen Schluchzern verebbt. Im Vergleich zu vorher waren sie kaum noch zu hören – so wie die verwaschene Musik, die sechs Kilometer entfernt nach dem Konzert begonnen hatte, nachdem die echte Band in einem Nebel aus Licht und Lärm verschwunden war und Bec und Russell sich Hand in Hand zum Gehen gewandt hatten, über einen Teppich aus weggeworfenen Plastikbechern.
    Ich habe alles im Griff, dachte Chris, alles ist gut. Es geht gleich wieder. Er saß da und wagte eine Weile keine Bewegung. Das Schluchzen hörte allmählich auf. Michael, im Grenzland zwischen Schlafen und Wachsein, wurde ruhiger, seine winzigen Augenlider fielen zu, öffneten sich und fielen wieder zu. Chris atmete vor Erleichterung tief ein, konnte sich aber immer noch nicht entschließen, seine überschlagenen Beine zu lösen oder sich bequemer hinzusetzen. Er saß da und lauschte den vertrauten Geräuschen von der Straße: dem Rattern und Rumpeln der Straßenbahnen, Stimmen in freundlichen Wortwechseln. Sein rechtes Bein war jetzt komplett taub, aber er versuchte, nicht daran zu denken. Chris berührte mit dem Zeigefinger Michaels Mund, und ohne die Augen zu öffnen, schloss das Baby die Lippen sanft um die Fingerspitze und saugte daran wie an einem Schnuller. Als Michael die Augen ein paar Minuten wieder öffnete, bot ihm Chris erneut den Finger an, aber diesmal schien es ihn zu ärgern. Er begann wieder zu schreien.
    Er hat Hunger, dachte Chris, sicher nuckelt er deshalb an meinem Finger. Er will etwas Richtiges zu essen. Bec hatte im Kühlschrank ein Fläschchen bereitgestellt.
    »Okay, Kumpel, dann holen wir dir mal was zum Abendessen, ja?«
    Abrupt stand er aus dem Sessel auf. Die plötzliche Bewegung erschreckte Michael, und er begann nicht nur zu schreien, sondern wand sich plötzlich in Chris’ Armen und strampelte mit erstaunlicher Kraft.
    »Hey, alles in Ordnung, mein Kleiner!«, sagte Chris, aber als er mit seinem tauben Bein auftrat, durchfuhr ihn ein plötzlicher Schmerz und brachte ihn aus dem Gleichgewicht, während das Baby noch energischer strampelte. In diesem Moment ließ er Michael fallen.
    Für ein paar Sekunden weigerte sich sein Gehirn einfach zu verarbeiten, was er vor sich sah. Das ist nicht passiert, dachte Chris. Nein, ich habe nicht gespürt, wie Michael gerade einfach so aus meinen Armen gefallen ist. Er

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