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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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absolvierte drei Sitzungen bei einem Therapeuten, wobei er mit Bedacht eine Klinik auswählte, in der er nicht durch irgendeinen unheilvollen Zufall Bec und Russell in die Arme laufen konnte. Als er schilderte, was passiert war, nickte der Therapeut aufmerksam, aber Chris war sich ziemlich sicher, dass er die Geschichte schon kannte: Wie es aussah, kannte sie ganz Melbourne. Der Mann sagte, durch Selbstvorwürfe gerate er nur in eine »Schuldspirale«. Er dürfe nicht zu streng zu sich sein. Chris versuchte noch einmal, ihm zu erklären, dass es nicht um Strengsein ging, sondern einzig und allein darum, dass er dem Baby Schaden zugefügt und seine Freunde verloren hatte, und dass er sich nicht vorstellen konnte, wie er sein Leben je wieder aus der Sackgasse herausholen sollte, in die es geraten war. In einem Jahr könne die Welt schon wieder ganz anders aussehen, sagte der Therapeut.
    Reiß dich zusammen. Sei nicht so streng zu dir. Chris stolperte durch ein paar weitere Monate. Der Sommer kam, und Melbourne war heiß und fiebrig. Der Rasen in den Parks wurde gelb, das Wasser war knapp, und jeden Abend hing der Geruch von Barbecues in der Luft. Überall sah Chris Grüppchen von Highschool-Kids, Studenten und Freunden, die zum St. Kilda Beach gingen, Musikfestivals besuchten und für ein verlängertes Wochenende ans Meer fuhren. Er nahm jetzt Tabletten, um nachts schlafen zu können. Seine Welt, die schon zuvor auf das Haus seiner Mutter zusammengeschrumpft war, passte jetzt im Wesentlichen in sein Zimmer. Er las Bücher, ohne etwas zu verstehen. Einmal oder zweimal brachte er den Mut auf, Matilda anzurufen, aber die Pausen waren jetzt länger als die Gesprächsphasen. Einmal rief er sogar Russell an, der zu seinem Erstaunen auch ans Telefon ging, aber er klang schuldbewusst und leise, als würde der Anruf jeden Moment brutal unterbrochen.
    »Chris, sieh mal, du weißt, ich … ich bin immer noch dein Freund und alles. Es ist bloß eine sehr schlimme Situation im Moment, und es ist wohl das Beste, wenn wir erst mal keinen Kontakt haben, verstehst du?«
    »Ist es wegen Bec?«
    »Na ja, das Ganze hat sie wirklich sehr mitgenommen. Es nimmt sie immer noch sehr mit.«
    »Hasst sie mich?«
    »Chris, bitte, hör auf. Hör zu, ich ruf dich an, ja?« Er legte auf.
    Chris’ plötzlich heruntergefahrenes Leben hätte noch beliebig viele Wochen, Monate oder Jahre so weitergehen können, doch dann brachten ihn, zum Glück vielleicht, zwei Ereignisse innerhalb von vierundzwanzig Stunden dazu, Melbourne zu verlassen.
    Das erste war ein Anruf von Lisa, einer alten Freundin aus Studienzeiten, die ein paar Jahre in Großbritannien gelebt hatte und jetzt eine große Party anlässlich ihrer Rückkehr schmiss. Offensichtlich war sie auf dem Laufenden; sie klang behutsam und liebevoll. Es wäre wunderbar, wenn Chris vorbeikommen und Hallo sagen würde. Sie hätte vollstes Verständnis, wenn ihm nicht danach sei, aber sie würde ihn vermissen. Chris hatte seit Monaten keinen nennenswerten Kontakt zu irgendjemandem mehr gehabt, und der Gedanke, dass ihn jemand vermisst hatte und sich wirklich um ihn bemühte, traf ihn an einer verletzlichen Stelle. Er beschloss, es als Wendepunkt zu betrachten, der jüngste einer Handvoll Momente, die er auf diese Art zu betrachten versucht hatte. Alles was er brauchte, war ein Wendepunkt, ein Neuanfang. Er ging zum Frisör, rasierte sich mal wieder und kaufte sich ein schickes Hemd. Im Spiegel übte er die Sätze, die man auf Partys eben so sagt: »Ach, na ja, ein paar Höhen und Tiefen.« – »Dies und das.« – »Wie geht’s deinem Bruder?« – »Schön, dich mal wieder zu sehen.«
    Die erste halbe Stunde lief es gut. Er suchte sich ein ruhiges Plätzchen im Garten, und Lisa riss sich ein Bein aus, damit er sich wohl fühlte, widmete sich fast ausschließlich ihm und erzählte ihm alles Mögliche über London: So viel los, aber so teuer. Dann sah er hoch, und auf der Veranda stand Matilda, mit neuer Frisur und einem neuen Mann. Er streichelte und tätschelte sie demonstrativ, und sie, die genau wusste, dass Chris auch da war, schüttelte ihn immer wieder ab, was nur als spielerische Aufforderung zum Weitermachen missverstanden wurde. Lisas Blick zuckte zwischen Chris und Matilda hin und her, und ihr wurde klar, was für einen schrecklichen Fehler sie gemacht hatte. Wie in aller Welt hatte sie das übersehen können, dachte Chris, nach all dem guten Zureden, um mich hierherzubekommen? Aber

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