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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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seinem inneren Auge vorbei, von dem Moment an, in dem das Blut aus ihrer Nase auf die Bodenkacheln getropft war.
    »Weißt du, Chris, du kannst sie ja nicht sehen. Richtig? Du kannst nichts für sie tun, weil du nicht mal in der Lage bist, mit ihnen zu sprechen. Ich schon. Deshalb muss ich für sie da sein. Und das bedeutet –«
    »Das bedeutet, du entscheidest dich für sie, nicht für mich?«
    »Es hilft niemandem, es so auszudrücken. Es geht nicht darum, sich für irgendwen zu ›entscheiden‹. Ich weiß nicht, was ich sonst machen soll.«
    »Und ich? Was soll ich machen?«
    Er wartete vergeblich auf eine Antwort.
    »Ich brauche dich«, sagte Chris. »Ich brauche dich, um das hier durchzustehen.«
    Sie wies das nicht zurück, akzeptierte es aber auch nicht. Keine vierundzwanzig Stunden darauf war er dabei, seine Sachen zu packen.
    Niemand wusste, was er für Chris tun sollte. Sein Vater war ein paar Jahre zuvor an Lungenkrebs gestorben. Chris’ Mutter überwand seinen Tod allmählich, dank der gemeinschaftlichen Bemühungen der drei Jungen, und es war ja nicht unerwartet passiert, man war darauf vorbereitet gewesen. Trotzdem war es vom Rest der Familie zu viel verlangt, sich so schnell wieder zu festigen und mit der nächsten Krise fertig zu werden. Und diese war viel schwerer zu verstehen. Rick und Steve legten Chris ihre kräftigen Arme um die Schulter, faselten etwas von Riesenpech und dass er sich keine Vorwürfe machen solle, dass manches eben passiere und man nach vorn sehen müsse, seine Freunde würden noch ein Kind bekommen. Chris nickte wortlos zu allem, was sie sagten. Er saß in der Ecke und beobachtete stumm, was im Haus vor sich ging, mit der verwirrten Gleichgültigkeit, mit der er jetzt alles um sich herum betrachtete.
    Eines Abends nahm ihn Rick ins Gebet, nach einem schweigsamen Abendessen, das nur vom unermüdlichen Herumgetolle seines fünfjährigen Sohnes Jayden etwas belebt wurde.
    »Du darfst dich vor Mum nicht so hängen lassen. Mach dich ein bisschen nützlich im Haus. Mach irgendwas, was du kannst. Sie darf dich nicht so sehen, so … du weißt schon, so in Selbstmitleid versunken. Nicht nach der Sache mit Dad und allem.«
    Chris wusste, dass sein Bruder recht hatte, und er versuchte es. Er tapezierte, strich die Wände und erledigte, was eben so anfiel, Arbeiten, die manchmal gar nicht unbedingt nötig waren, die seine Mutter jedoch eifrig unterstützte, in der Hoffnung, es gehe »bergauf« mit ihm. Ein paar Monate arbeitete er gelegentlich an der Bar eines mexikanischen Lokals in Melbourne City, eine beruhigend anonyme Umgebung. Aber noch immer konnte ihn ein einziger Moment völlig aus der Fassung bringen, sodass er blass und zitternd zurückblieb.
    Einmal war es ein mitgehörter Gesprächsfetzen an der Bar, drei Jungs, harmloses Geplänkel – »Mensch, Alter, bist wohl als Kind auf den Kopf gefallen oder was?«, dann Gelächter. Ein anderes Mal war es der bloße Anblick eines Babys, und eines Abends glitt ihm der Cocktailshaker aus der Hand, als er gerade eine Piña Colada mixte, und als er die schlammige Sauerei auf dem Boden sah, brach er in Tränen aus.
    Sein Chef, ein griechischer Einwanderer, war die ersten Male nachsichtig mit ihm (»Reiß dich zusammen, mein Freund«, sagte er und klopfte ihm scherzhaft auf den Rücken, »davon geht die Welt nicht unter«).
    Aber nachdem Chris in Tränen ausgebrochen war, rief er ihn zu sich ins Büro, ein winziger Raum hinter der Bar, kaum größer als ein Kleiderschrank.
    »Wir lassen das lieber, mein Freund, das ist auch für dich das Beste«, sagte er. Chris war einverstanden.
    Reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen. Das sagten auch Rick und Steve immer. Es war das australische Motto für harte Zeiten. Selbst Matilda sagte es einmal. Sie gab sich Mühe, nach seinem Auszug mit ihm in Verbindung zu bleiben; sie telefonierten mehrmals wöchentlich, dann nur noch einmal pro Woche, und irgendwann schlief die Sache soweit ein, bis Chris hauptsächlich mit ihrer ruhigen Stimme auf Band in Kontakt war: Hier ist Matilda, bitte hinterlasst mir eine Nachricht. Aber da ist ja eben nicht Matilda, dachte er dann immer. Manchmal hinterließ er eine Nachricht, bat sie höflich zurückzurufen, und manchmal tat sie es auch. Doch für zwei Menschen, die den Großteil ihres Lebens zusammen verbracht hatten, war dieser kühle, formelle Kontakt noch schlimmer als eine richtige Trennung. Und auf die steuerten sie dann auch immer mehr zu.
    Chris

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