Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
Vom Netzwerk:
vielleicht hatte sie auch nicht gewusst, dass Matilda jemanden mitbringt, oder sie kannte nicht die ganze Geschichte der Trennung. Es spielte aber auch keine Rolle mehr. Er wartete, bis Matilda mit dem Mann nach drinnen gegangen war – er sah aus wie ein Footballspieler, mit breiten Schultern und kurzem Haar –, und suchte so schnell wie möglich das Weite. Als er die Straße entlangging, vorbei an schönen alten Backsteinhäusern mit ausgebleichter gelber Farbe und schmiedeeisernen Balkonen, sah er ein Flugzeug, dass eine Botschaft an den Himmel schrieb und fast schon höhnisch das Abendrot zerschnitt, als habe es ja so kommen müssen.
    Am nächsten Abend unternahm seine Mutter einen beherzten Versuch, das Thema zur Sprache zu bringen, wenn auch zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt.
    »Weißt du, Chris«, sagte sie, verschränkte nervös die Finger und sah auf ihren Ehering. »Als ich ein bisschen jünger war als du, da habe ich nachts in einem Krankenhaus gearbeitet, und wir hatten einen Patienten, den ich sehr mochte, und –«
    »Mum, ich will nicht darüber reden.«
    Sie schluckte.
    Rick und Steve tauschten warnende Blicke aus.
    »Ich will damit nur sagen«, beharrte sie, »dass alles seinen Grund hat.«
    »Was soll das denn heißen, verdammt!?«, blaffte Chris, viel aggressiver, als er beabsichtigt oder vielleicht auch für möglich gehalten hatte.
    »Belassen wir’s dabei, ja«, begann Rick und erteilte ihm mit einem Blick eine scharfe Warnung, über die sich Chris hinwegsetzte, denn dieses eine Mal war es ihm völlig egal, was seine älteren Brüder dachten.
    »Was soll denn das heißen, ›alles hat seinen Grund‹? Ja klar, ein Kind hat meinetwegen einen Hirnschaden, aber macht nichts, es gibt bestimmt irgendeinen Grund? Soll mich das aufheitern? Soll ich dir sagen, was der ›Grund‹ ist? Alles ist scheiße, das ist der Grund!«
    »Okay, Kumpel, das reicht jetzt!«, sagte Rick in einem Tonfall, den Chris zuletzt von ihm gehört hatte, kurz bevor er jemandem die Faust ins Gesicht geschlagen hatte. Steve legte eine Hand auf Ricks Unterarm, aber Rick ließ sich nicht beirren. »So redest du nicht mit unserer Mutter, Freundchen! Du gehst jetzt raus an die Luft und überlegst dir, ob das richtig ist!«
    »Ist schon gut, Richard.« Dieses Ergebnis fürchtete ihre Mutter am meisten – dass die Jungen sich stritten. »Ist nicht so schlimm. Ich wollte ja bloß … tut mir leid.«
    »Entschuldigst du dich jetzt gefälligst?« Rick, einsfünfundneunzig groß und mit mächtigem gespanntem Bizeps, beugte sich über den Tisch.
    »Ich entschuldige mich bei Mum, wann ich will. Und bei dir entschuldige ich mich gar nicht. Du hältst dich da raus.«
    »Ach ja? Ich soll mich raushalten, wenn du Mum hier die ganze Zeit auf der Tasche liegst und dich in deinem Unglück suhlst? Und keinen Scheißcent zum –«
    »Das ist es doch nicht wert, Alter«, murmelte Steve.
    »Es ist nicht so, dass ich kein Mitleid hätte, aber das geht jetzt schon lange genug so!«, sagte Rick. »Und soll ich dir noch was sagen, ja? Ich sag dir noch was!«
    »Hört auf, hört auf , ihr alle!«
    Sie schluchzte. Steve legte ihr einen Arm um die Schulter. Rick sagte Chris nie, was ›noch was‹ war. Ihre Mutter ging aus dem Zimmer, räumte im Vorbeigehen mit Steves Hilfe noch den Tisch hab, und die Szene verpuffte zu einer schweren, düsteren Stille.
    Chris wusste, dass er die Erinnerung an seine Mutter, wie sie so weinte, ein Leben lang nicht mehr loswerden würde – dass sie wie ein brutaler Tyrann viele glücklichere, maßgeblichere Erinnerungen verdrängen würde. Außerdem wusste er, dass er sofort ausziehen musste.
    Xavier sieht zu, wie der Montagmorgen anbricht, ein zarter Flecken Rosa, der schon bald einem wolkigen Himmel weicht, und hört draußen wieder einmal das Uhrwerk der Woche anspringen. Tamara trabt vor seiner Tür die Treppe hinunter. Jamie unter ihm hat einen kribbeligen Husten. Vor Xavier steht immer noch die Teetasse. Ich habe mich seit drei Stunden nicht bewegt, denkt er und steht langsam auf. Er fühlt sich, als wäre das Freilassen von Erinnerungen, die fünf Jahre lang eingesperrt waren, eine körperliche Anstrengung gewesen. Es ist, als wäre er fünf Jahre lang ohne Pause eine Straße entlanggelaufen und hätte sich jetzt zum ersten Mal umgedreht und gemerkt, wie ermüdend lang sie war.
    Es ist ungefähr sechsunddreißig Stunden her, seit Pippa gegangen ist. Xavier legt sich aufs Bett und tippt mühselig eine SMS

Weitere Kostenlose Bücher