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Elf Leben

Elf Leben

Titel: Elf Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Watson
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dreht den Kopf zu ihm. Seine Augen sind feucht, seine Wangen gerötet.
    »Das war blöd von mir«, sagt Murray. »Tut mir leid, das war ein blöder Abend. Komm, wir gehen nach Hause.«
    »Bist du sicher?« Xavier deutet halbherzig auf den Club mit dem ernsten Messingschild und den eiligen Kellnern in schwarzen Westen darin, die die Gäste – darunter der Parlamentsabgeordnete, der eine Affäre mit Edith Thorne hatte – beim Namen kennen.
    Murray nickt und zieht die Hände in die Ärmel. Er sieht plötzlich älter und ruhiger aus; von seinem Stottern ist nichts zu hören.
    Er nickt noch einmal, resigniert.
    »Ja. Vergiss, was ich gesagt hab.« Er geht schon in Richtung Hauptstraße und hält Ausschau nach einem freien Taxi. »Fahren wir nach Hause. Einfach nur nach Hause.«

IX Die zweite Aprilwoche; ein lauer Dienstagvormittag, sowohl was das Wetter angeht als auch, jedenfalls in der Bayham Road, die Ereignisse. Die Busse schlängeln sich durch den Verkehr, Angestellte fahren ins Büro. Xavier geht zur Tür, nimmt ein Päckchen für Tamara an, die er jetzt schon ein paar Tage nicht gesehen hat, und hebt einen Stapel anderer Briefe, Kataloge und bunter Blättchen auf, die der Postbote gebracht hat, dessen Tochter später bei der Mathdown, der Matheolympiade der Londoner Schulen, unter anderem gegen Julius Brown antreten wird.
    Xavier klopft an Mels Tür. Nach einer kurzen Verzögerung fallen sie wieder in ihre üblichen Rollen: Mel, die Augen tief in den Höhlen, öffnet die Tür und blinzelt ihren Nachbarn müde an, Jamie wieselt in den Flur und Xavier verstellt ihm fast schon routiniert den Weg. Xavier und Mel lächeln sich an wie Mannschaftskameraden.
    »Wie geht’s?«
    »Oh, schon viel besser.« Mel blinzelt fröhlich. Die Wohnung hinter ihr sieht aus wie ein Schlachtfeld, überall liegen Spielsachen, neben der Spüle türmt sich das schmutzige Geschirr, und der plappernde Fernseher versucht, den aufgedrehten Jamie zu beruhigen. »Er bekommt bald einen Kitaplatz. Nur für ein paar Vormittage in der Woche. Dann kann ich wieder ein bisschen, äh –« Mel deutet auf die Tür, die Außenwelt, und sieht aus, als wüsste sie nicht mehr, wann sie ihr das letzte Mal einen Besuch abgestattet hat. »Und diesen Samstag und den Samstag danach holt ihn sein Dad.« Aber dieser Gedanke löst mehr Unbehagen als Freude aus, und ihre Lippen werden dünn, als sie ironisch das Gesicht verzieht.
    »Er wird sicher seine eigenen Ansichten dazu haben, wie ich mich schlage.«
    »Also, wenn du irgendwas brauchst.« Xavier reicht Mel ihre Briefe oder eher Rechnungen, wie es aussieht; mutlos streift ihr Blick einen abschreckenden braunen Umschlag. »Du weißt, wo du mich findest«, fügt er hinzu.
    Mel streckt die Hand aus, als wollte sie ihm den Arm tätscheln, denkt er, aber irgendetwas im Wohnzimmer ist nicht zu Jamies Zufriedenheit, und sein Gebrüll ruft sie zurück auf ihren Posten. Xavier sieht ihr nach und schließt sachte die Tür.
    Er und Pippa haben sich SMS geschrieben, wobei Xavier die Initiative ergriff und Pippa in angemessen nervenaufreibenden Abständen antwortete. Er weiß nicht, ob er die Verzögerungen ihren vollgepackten Arbeitstagen zuschreiben soll oder einem bewussten Versuch, ihn zu beunruhigen, zur Strafe für das, was vorher geschehen ist. Wenn Letzteres der Fall war, ging der Plan auf; er ertappte sich viel zu oft dabei, auf sein Handy zu schauen, und spürte seltsame kleine Stiche der Enttäuschung, wenn das Display keine neuen Nachrichten anzeigte, gefolgt von beschämend starken Reaktionen auf ihre Nachrichten, die, wenn sie dann kommen, ebenso korrekt formuliert sind wie ihre handgeschriebenen Notizen: Ich würde dich am Wochenende gern sehen, aber es ist vielleicht nicht möglich. Am Donnerstagnachmittag geht es auch nicht, da ich bei der schrecklichen Frau in Marylebone saubermache. Vielleicht ging es ihm schon immer so, wenn sie sich meldete, quasi von Anfang an; das ist jetzt schwer zu sagen.
    In den beiden Sendungen seit dem Wochenende wurden die Ereignisse mit keinem Wort mehr erwähnt, abgesehen von einer sehr leisen Anspielung von Murray, als er Xavier am Sonntagabend abholte.
    »Ich bin übrigens wieder ganz der Alte, kann ich dich beruhigen.«
    »Und bist du … geht’s dir gut?«, fragte Xavier vorsichtig.
    »Ausgezeichnet«, sagte Murray und trommelte mit seinen plumpen Fingern auf das Lenkrad, wobei er versehentlich auf die Hupe kam, und ein Mann, der gerade über die Straße ging, zuckte

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