Elf Leben
seinen grauen Peugeot anlässt und halbherzig einem Kollegen zuwinkt –, wie er sein Leben nach dreizehn vollkommen durchschnittlichen Schuljahren zu einer formlosen Aneinanderreihung von Tagen in einer fast identischen Institution werden lassen konnte. Und wozu? Um noch mehr Lehrer hervorzubringen. Fünf der Schüler in seinem A-Level-Kurs wollen Mathelehrer werden, genau wie er selbst ein Mathelehrer ist, den sein eigener Mathelehrer hervorgebracht hat. Es gleicht einer sich unendlich wiederholenden Folge von der Art, die ihn begeistern würde, wäre er ein echter Mathematiker und nicht nur jemand, der die endlose Reproduktion zukünftiger Pädagogen ermöglicht.
In dem Kreisverkehr, der auf die Umgehungsstraße führt, die ihn schließlich in dem neu gebauten Wohngebiet ausspucken wird, wo er zu Hause ist, bremst Clive Donald scharf, um einen Zusammenstoß zu vermeiden, und ist leicht angewidert von seinen untadeligen Instinkten: Selbst während er über seinen eigenen Tod fantasiert, kann er es nicht lassen, auf Nummer sicher zu gehen, er ist nicht wirklich lebensmüde. Vielleicht bringe ich es ja doch nicht fertig, denkt er – vielleicht bin ich einfach zu feige. Was für ein jämmerlicher Waschlappen muss sich davon überzeugen, dass er es drauf hat, sich umzubringen? In der Diele sieht er sein Spiegelbild – dickbäuchig und bleich, genau wie er nie werden wollte; man könnte ihn bei einem Mord beobachten und hätte danach Mühe, der Polizei auch nur ein einziges Detail über sein Aussehen zu nennen – und bemerkt verächtlich die Art, wie er seinen Mantel aufhängt. Immer noch dieselbe sinnlose Erledigung von Aufgaben, dieselben Handgriffe. Es ist, als könnte seine eine Gehirnhälfte die Todessehnsucht der anderen nicht ernst nehmen.
Als die Nacht hereinbricht oder eher hereinsickert, ein trübes Violett draußen über der Straße, kämpft Clive weiter um den schieren Mumm, es zu tun – noch nicht einmal so sehr der Mut, sondern schon die Selbstachtung, die dieser Akt erfordert, scheint mehr zu sein, als sein mittelmäßiges Leben verdient. Er stellt sich die Reaktionen seiner drei Ex-Frauen vor: Angie – echte Traurigkeit, Tränen vielleicht; Polly – Verachtung, ja, genau so etwas Idiotisches ist ihm zuzutrauen, und Marjorie? Verwirrung – sie konnte sich noch nie in ihn oder in irgendjemand anderen einfühlen. Aber Angie, ja, seine erste Frau, sie war die Richtige. Wenn sie ihn nicht verlassen hätte. Wenn sie vielleicht Kinder gehabt hätten. Sie wird traurig sein, wenn sie es erfährt, sie wird sich an ihre Flitterwochen an den Norfolk Broads erinnern, wie sie über eine in Reih und Glied watschelnde Entenfamilie lachten. Sie war die Richtige, die ganze Zeit; alles danach war ein einziger, schrecklicher Fehler.
Es wird Mitternacht, und ins Bett zu gehen, wäre das Eingeständnis, dass er es nicht tun wird, dass er morgen wie immer aufstehen und die üblichen Dinge in der üblichen Reihenfolge tun wird. Aus Gewohnheit schaltet Clive das Radio ein und sitzt da, vor sich dreißig Aufgabenhefte, Hunderte hingekritzelter Zahlen in jenen kleinen Kästchen, die in Matheheften aus unerfindlichen Gründen statt Linien vorgedruckt sind. Xavier Ireland stellt das heutige Thema vor und eröffnet eine Diskussion über, wie sein unangenehmer Ko-Moderator es ausdrückt, »die Freuden der politischen Korrektheit«. Der erste Song beginnt. Das kleine Türmchen aus Matheheften steht unbeeindruckt vor ihm auf dem Tisch, und Clive greift zum Telefon und tippt von all den Zahlen auf dem Küchentisch die einzigen in die Tastatur, mit denen er noch etwas anfangen kann.
»Er ruft einfach immer weiter an.« Murray, mülleimerdeckelgroße Kopfhörer auf die rotgeränderten Ohren geklemmt, hält verzagt das Telefon hoch wie ein kaputtes Küchengerät. »Vier oder fünf Mal hat er es in der letzten halben Stunde versucht.«
»Dann nimm ihn rein.« Xavier denkt mit Unbehagen an die E-Mails von Clive, die er ignoriert hat.
Die Stimme der Frau, die sie nie kennenlernen werden, verliest mit glatt geschliffenen Konsonanten die Nachrichten und die Wettervorhersage.
»Aber er erzählt doch immer dasselbe. Es geht ihm dreckig. Seine Frauen haben ihn verlassen. Er fühlt sich, als hätte er B-b-besseres im Leben verdient. Ich meine, das führt doch zu nichts.«
»Aber er hat es wahrscheinlich nötiger, mit mir … mit uns zu sprechen, als die meisten anderen.«
»Sind wir eine Radiosendung oder ein
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