Elf Leben
W-w-wohltätigkeitsverein?«, murmelt Murray halb zum Spaß und bereitet sich darauf vor, den Song auszublenden. Xavier nimmt einen Schluck aus der BIG - CHEESE -Tasse. »Und jetzt«, sagt Murray mit einem gekränkten Blick zu Xavier, »jetzt hören wir wieder von einem unserer regelmäßigen Anrufer.«
Clives Beitrag steht in einem noch fadenscheinigeren Zusammenhang zur Diskussion des Abends als sonst; nach einigen äußerst oberflächlichen Bemerkungen zum Thema begibt er sich wieder in die vertrauten Gefilde seiner Misere.
»Xavier, ich muss sagen, es geht mir heute Nacht besonders schlecht.«
»Warum gerade heute Nacht, gibt es einen bestimmten Grund?«, fragt Xavier.
»Ach, es ist nichts Besonderes heute. Ich habe bloß das Gefühl – wissen Sie, genug ist genug, wirklich. Es ist alles schiefgelaufen. Ich sehe keinen vernünftigen Grund mehr, warum ich – Sie wissen schon. Warum ich mich weiter so dahinschleppen soll.«
Murray wirft Xavier einen Blick zu, der soviel bedeutet wie: Hab ich’s dir nicht gesagt?
»Haben Sie schon mal mit jemandem darüber geredet?«
»Ich wüsste nicht, wozu.«
»Weil es nicht gut tut, diese Gedanken in sich hineinzufressen, Clive. Deshalb haben Sie uns ja angerufen, nicht wahr?«
»Ich glaube, es ist zu spät dafür, dass irgendwer … ich würde mich danach nur wieder genauso fühlen.«
Das Gespräch schreitet quälend langsam voran, Clive weicht jedem Versuch von Xavier aus, ihn aufzumuntern, aber Xavier bohrt trotzdem weiter, bis Murray unterbricht.
»Okay, Clive, schön, mal wieder von dir gehört zu haben …«
Clive, weit weg in der knackenden Leitung, klingt, als wollte er noch etwas sagen, doch dann ist er weg.
In der nächsten Werbepause sehen sie einander besorgt an.
Achselzuckend durchbricht Murray die Stille.
»Wir sind doch nicht dafür verantwortlich, auf jeden auf der W-welt aufzupassen.«
»Das habe ich auch nicht gesagt.«
»Aber du fandest es offensichtlich falsch, dass ich ihn abgewürgt hab.«
Xavier winkt ärgerlich ab. Auf dem Parkplatz taucht kurz der Fuchs auf und schnüffelt um zwei schwarze Müllsäcke herum.
»Es war schlechtes Radio«, beharrt Murray.
Gerade läuft ein Werbespot für die Supermarktkette, bei der Julius Browns Mutter arbeitet.
»Es ist nicht immer schlechtes Radio, wenn wir die Leute einfach mal reden lassen.«
»In seinem Fall aber schon.« Murray will nicht streiten. Er steht auf, macht ein Zeichen für Kaffee. Xavier nickt.
Kaum dass Murray im Flur ist, fasst Xavier einen Entschluss. Er rutscht auf den Sessel seines Kollegen und ruft die vollständige Anruferliste auf, mit Telefonnummern und Wohnorten. Er sucht Clives Nummer heraus und wählt sie. Es klingelt viermal, dann kommt eine zögerliche Antwort.
»Clive Donald.«
»Hallo Clive, hier ist Xavier.«
»Aus dem Radio?«
»Ja.«
»Du meine Güte. Ich …«
»Hören Sie, Clive, ich mach mir Sorgen um Sie. Sie klingen ziemlich verzweifelt.«
»Ganz ehrlich, dass bin ich auch.«
»Clive, ich hab nicht viel Zeit, wir sind gleich wieder auf Sendung, aber ich dachte, ich könnte ja mal vorbeikommen und Sie besuchen, wenn Sie wollen. Nur mal so zum Reden.«
»Vorbeikommen und … und mich besuchen?«
»Morgen zum Beispiel, oder – schicken Sie mir einfach eine SMS mit der Adresse. Ich geb Ihnen meine Nummer.« Was tue ich hier eigentlich?, fragt sich Xavier mit verwirrtem Gesicht.
Es entsteht eine Pause.
»Und heute Nacht?«
»Ich bin erst um vier Uhr hier fertig.«
»Ich bin noch wach.«
Sie haben noch dreißig Sekunden, bis sie wieder auf Sendung sind. Murray schiebt sich, die Schultern voran, durch die Tür, in jeder Hand eine überschwappende Kaffeetasse.
»Gut«, sagt Xavier eilig, »gut, ich komme.«
Xavier sitzt auf der Rückbank eines Taxis, das in nördlicher Richtung aus London hinausfährt, nachdem er Murray gesagt hat, er habe »was Dringendes zu erledigen« und brauche diesmal nicht nach Hause gefahren zu werden. Was konnte es um vier Uhr morgens wohl so Dringendes zu erledigen geben, fragte Murrays gerunzelte Stirn, aber er sagte nichts. Irgendetwas steht plötzlich zwischen ihnen. Als sie sich auf dem Parkplatz verabschiedeten, spürte Xavier einen leichten Ärger in sich gerinnen, fast einen Widerwillen.
Er sieht zum Fenster hinaus, während das dritte Viertel der Nacht in das letzte übergeht; die Dunkelheit liegt noch immer schwer auf der Stadt, aber sie hat sich still in ihr Ende gefügt, und die Vögel auf den Ästen
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