Elf Leben
erschrocken zusammen. Und tatsächlich rauschten die Sendungen vom Sonntag und Montag angenehm vorbei, mit den Themen »Mein Traumurlaub, Geld spielt keine Rolle« am Sonntag und »Wenn ich magische Kräfte hätte« am Montag, das die Leitungen förmlich zum Glühen brachte. Es gab schon einmal eine Sendung dazu, aber das schien niemanden zu stören: Manchmal schreiben langjährige Hörer sogar E-Mails und bitten darum, dass alte Diskussionen noch einmal aufgegriffen werden.
Sogar »Murrays Nachtgedanken« – mit Gerüchten über eine Pandemie und, noch einmal, dem heißen Thema von Edith Thornes Untreue – liefen gut in den letzten beiden Nächten. Wenn sich dieser Trend fortsetzt und Murray noch etwas länger nicht mehr auf das Wochenende zu sprechen kommt, so hofft Xavier, können all die offenen Fragen vielleicht so lange hinausgeschoben werden, bis sie aus dem Blickfeld verschwinden. Er weiß, dass das eine feige und vielleicht auch naive Hoffnung ist, aber andererseits ist er damit schon in so vielen anderen Situationen gut gefahren.
Xavier duscht, rasiert sich und betrachtet sich im Spiegel. Er hat ein wenig abgenommen in letzter Zeit, wenn auch nicht absichtlich. Ihm fällt ein, dass er wieder einmal zu Hause bei seiner Mum anrufen sollte. Vielleicht im Laufe der Woche. Vielleicht könnte er auch erst abwarten, ob sich herausstellt, dass er mit Pippa »zusammen ist«. Das würde sie gern hören.
In einem anderen Teil der rastlosen Stadt sitzt Julius Brown mit zornig gerunzelter Stirn über einer verzwickten Gleichung der Mathdown, unbeachtet von den anderen, ebenso vertieften Teilnehmern. Vijay, der Scrabble-Champion, wird um einen halben Arbeitstag zurückgeworfen, als das Computersystem der Universität abstürzt. Er runzelt die Stirn, schüttelt den Kopf und geht sich ein Sandwich holen. Bei Frinton erfährt Ollie Harper – endlich im Besitz eines neuen BlackBerry –, dass Sam einen neuen Freund hat; kein Wunder, dass sie nicht mehr auf seine SMS geantwortet hat. Es ärgert ihn, dass er eifersüchtig auf sie beide ist. Roger, Ollies Chef, probiert gerade eine neue Mundspülung aus. Er hat beschlossen, sich nicht nach einem neuen Therapeuten umzusehen: In der Branche tummeln sich offensichtlich nur Spinner. Frankie Carstairs Narbe beginnt endlich zu verblassen.
In ihrem Haus in Notting Hill, drei Straßen entfernt von Maggie Reiss, bekommt Edith Thorne von ihrem Mann Phil das Ultimatum gestellt, das die Zeitungen atemlos vorausgesagt haben: Sie soll schwören, ihn nie wieder zu betrügen, oder sich auf der Stelle von ihrer Ehe verabschieden. Er weiß, es ist zu zwei Dritteln ihr Geld, ihr Haus, ihr alles, aber er kann das alles morgen hinter sich lassen, wenn sie meint, sie könne sich nicht festlegen. Nein, sagt Edith, sie wolle bei Phil bleiben, nichts anderes zähle und sie würde alles dafür tun. Am Ende der einstündigen Aussprache weinen sie beide. Später wird Edith versuchen, geradewegs zur Tür hinauszugehen und sich in einen bereitstehenden Wagen zu setzen, dessen getönte Fensterscheiben wie Schuldeingeständnisse wirken, aber selbst auf den zehn Metern von der Tür zum Wagen erwischt es sie: das sanft anklagende Klicken eines sich öffnenden und schließenden Kameraverschlusses, ein Fotograf, der hastig sein Kopfgeld in Form von Aufnahmen an sich reißt. Er ruft ihren Namen, als sie die Wagentür hinter sich zuwirft. Der professionell gleichgültige Chauffeur tut, als hätte er nichts bemerkt.
Clive Donald unterrichtet gerade eine heterogene Lerngruppe von neunundzwanzig Schülern zum Thema quadratische Gleichungen. Sechs von ihnen, die Mathematik bis zum A-Level weitermachen wollen, sind konzentriert und machen sich Notizen, zehn oder zwölf weitere sehen wenigstens nach vorn, auch wenn sie seinen Worten keinerlei Bedeutung beimessen, und die Restlichen rebellieren ganz offen, bewerfen sich gegenseitig mit Sachen, schreiben sich Briefchen – DONALD IST SCHWUL –, rufen, essen und zählen die Minuten bis zum Ende der Stunde rückwärts. Das müde Rasseln der Glocke ist für alle eine Erleichterung. Clive sieht zu, wie die Schüler auseinandergehen. Es ist nicht ihre Schuld. Er erinnert sich daran, wie er selbst als Schüler nach dem Unterricht den Bus nach Hause nahm und nur noch weg wollte aus dem unbarmherzigen, altmodischen Backsteingebäude mit den Heizkörpern, von denen die Farbe abblätterte. Es ist ihm nicht klar – vielleicht war es noch nie klar, denkt er, als er
Weitere Kostenlose Bücher