Elf Zentimeter
vor dem Fenster vorbeigeht«, sagte ich lachend.
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D as Vorstellungsgespräch bei Untergruber verlief bestens. Ich konnte gleich am nächsten Tag als Briefträger anfangen. Ich war froh, wieder einmal eine bodenständige Beschäftigung zu haben. Dienstantritt war früh am Morgen. Jeweils um fünf Uhr wartete ich in der Lilienfelder Zentrale auf den LKW . Bis halb acht sortierten wir die Zustellungen, zuerst nach Postleitzahl, dann nach Rayon, schließlich nach Straßen. Anschließend ging ich jeweils ins Kaffeezimmer und flirtete mit den älteren Kolleginnen. Mit Helga war es besonders lustig. Sie stand kurz vor der Rente. Wir spielten ein altes Ehepaar oder taten so, als hätten wir eine geheime Liebschaft. Manchmal zitierte sie Shakespeare, wenn ich das Zimmer betrat.
»Soll ich dich mit einem Sommertag vergleichen, meine Lerche?«
»Ich bin die Nachtigall und nicht der Uhu«, antwortete ich.
»Ach, ich sah also zu früh, was ich zu spät erkannt«, rief sie gespielt verzweifelt und reichte mir die Kaffeetasse.
»Oh, wackre Apothekerin! Dein Trank wirkt schnell und …«
Ich wusste nicht weiter, weil mir »Romeo und Julia« so vertraut auch wieder nicht war.
Helga half mir aus.
»Und so im Kusse stirbst du?«
Sie reichte mir den Zucker.
»Lass ihn dir schmecken, mein Darling.«
Meine Eltern betreuten als Briefträger die Ortschaft Traisen. Gewöhnlich taten sie das mit einem weiteren Kollegen zu dritt. Der war auf Urlaub, und ich sprang für ihn ein, sodass Traisen in diesem Sommer die Post von der ganzen Familie Scheiblecker bekam. Nach dem Kaffee fuhren wir jeden Tag mit dem Postauto hin. Dort drehte dann jeder für sich seine Runden. Gegen elf Uhr trafen wir uns am Postamt in Traisen wieder und fuhren zurück in die Zentrale nach Lilienfeld, wo abgerechnet wurde.
Das frühe Aufstehen stabilisierte mich. Ich konnte nicht anders, als auch früh schlafen zu gehen. Es gab keine langen, schlaflosen, grüblerischen Nächte mehr, in denen mir immer wieder dieselben sinnlosen Gedanken durch den Kopf gingen.
Am Anfang meiner zweiten Arbeitswoche erreichte ich Johanna endlich. Gleich zu Beginn machte ich ihr Vorwürfe.
»Warum hast du nicht abgehoben?«
Ich dachte noch, dass das wohl kein guter Anfang war, aber meine Aufregung schien ihr zu gefallen. Sie lachte.
»Ich war nur auf Urlaub«, sagte sie und meinte dann noch: »Du wirst ein guter und besorgter Vater sein.«
Noch am selben Nachmittag besuchte ich sie in Hafnerbach. Der kleine Ort lag zwanzig Kilometer von Hainfeld entfernt. Unterwegs versuchte ich, den Gedanken zu unterdrücken, was für Folgen es hätte, wenn einer wie ich einen Sohn bekam. War die Schwanzlänge etwas, das in der Familie lag? Sollte ich wirklich einmal ein Kabarettprogramm über Penislängen machen, würde ich diese Frage auslassen. Mein Vater hatte es nicht verdient, da wie auch immer mit hineingezogen zu werden. Und mein Sohn, sollte es einer werden, genauso wenig.
Ich war nervös, als ich am Ortsschild von Hafnerbach vorbeifuhr. Ich konnte mich nicht mehr richtig erinnern, wie Johanna aussah. Da sie im sechsten Monat schwanger war, würde das allfällige Zweifel ausräumen. Sollte ich das Kind später einem Vaterschaftstest unterziehen? Sollte ich es heimlich tun oder Johanna um Erlaubnis fragen? Würde so viel Misstrauen unsere Elternbeziehung auf die Probe stellen? Es ist schon unglaublich, was so passieren kann, wenn Menschen Sex miteinander haben. Ich hatte natürlich gewusst, dass auch Kinder auf diese Art entstehen, aber so richtig begriffen hatte ich die möglichen Konsequenzen bisher noch nicht.
Ich stand eine ganze Weile vor dem Hauseingang, der sich statt an der Straßen- auf der Rückseite des rosaroten Mehrfamilienhauses befand. Ein schmaler Weg führte zwischen Rosenbeeten hindurch dorthin. Immer wieder las ich die Namen auf der Gegensprechanlage. Vielleicht würde sie mich lieben. Vielleicht wartete da oben die große Liebe auf mich. Vielleicht würde sie von der Schwangerschaft müde und geschwächt, vielleicht auch aufgeblüht sein, erfüllt von gewaltigen Mengen weiblicher Hormone. Es konnte auch sein, dass sie mir einfach nur die Rechnung präsentieren würde. Eine Summe, die ich von nun an monatlich überweisen müsste. Womöglich würden ihre Eltern da sein und mich zu einer Hochzeit zwingen wollen. Und Sabine – Sabine gab es auch noch immer irgendwie.
»Du musst auf die Klingel drücken, sonst funktioniert der Türöffner nicht.«
Die
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