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Elf Zentimeter

Elf Zentimeter

Titel: Elf Zentimeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Scheiblecker
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verhindern. Nicht verhindern konnte ich allerdings, dass meine Großmutter eine Flasche Obstbrand öffnete.
    In jener Nacht schlief ich kaum mehr als eine Stunde. Schließlich musste ich am Morgen noch zu Fuß das Auto abholen, damit die Familie Scheiblecker pünktlich am Postamt in Lilienfeld eintreffen konnte.

[home]
    10
    M itte Juli holte ich Jakob aus dem Krankenhaus ab. Marianna war gerade auf Urlaub, also konnte ich mich angstfrei durch die Gänge des Krankenhauses bewegen. Sie war dort, wohin ich eigentlich mitfahren hätte sollen. Auf Teneriffa.
    Unterwegs kauften wir uns ein paar Flaschen Bier, die wir bei Jakob im Garten tranken. Wie ich wohnte er noch bei seinen Eltern. In unserer Gegend ist das so üblich.
    Jakob war wieder halbwegs in Ordnung, nur in seiner Schulter steckten noch einige Metallteile und die Narben an seinem Oberschenkel und seinem Unterarm sahen noch gruselig aus. Zuerst redeten wir über neue Motorräder. Jakob meinte, dass er so bald wie möglich wieder fahren wolle.
    »Dein Vorderrad damals«, sagte er. »Das war schon wirklich scheißknapp.«
    Er lachte.
    »Das hast du mitgekriegt?«, fragte ich erstaunt.
    »Es war wie in Zeitlupe. Ich konnte im Kopf noch ein kleines Gebet sprechen.«
    »Ich würde auch trotzdem gern bald wieder fahren«, sagte ich. »Aber ich muss erst sehen, wann ich mir eine neue Maschine leisten kann.«
    Jakob hörte sich geduldig an, wie es bei Johanna gelaufen war. Er sagte nichts dazu, aber das Grundereignis beschäftigte ihn nach wie vor.
    »Eine Viertelstunde im Wald und gleich ein Kind«, sagte er.
    »Ich hatte da beim ersten Mal übertrieben«, sagte ich. »Es waren höchstens zwei Minuten.«
    »Und dann gleich ein Kind«, wiederholte er. »Da braucht man schon gewaltige Eier.«
    Er war also auch ein Anhänger der Schimpansen-Theorie. Ich sonnte mich ein wenig in seiner Bewunderung.
    Seine Mutter brachte uns frische Limonade, um uns vom Alkoholkonsum abzuhalten. Das war eine gute Idee. Schon weil es unglaublich heiß war. Wir beide, zwei motorrad- und weitgehend mittellose Vierundzwanzigjährige mit heilenden Wunden, mussten in der Hitze dieses frühen Nachmittags zugeben, dass die frisch gepressten Zitronen belebender waren als der verlockende Gerstensaft.
    Hinterher blieb ich lange im Auto sitzen. Ich überlegte, ob ich auch genug Eier hatte, Sabine anzurufen. Als ich das Handy aus der Hosentasche nahm, schoss mir das Adrenalin in den Kopf. Es schien viel länger als sonst zu dauern, bis die Verbindung aufrecht war. Ich ließ es einmal läuten, ein zweites Mal, ein drittes Mal, dann legte ich auf. Sie würde ohnehin nicht abheben.
    Vorsichtig steuerte ich den Wagen heimwärts. Ich war kein Held. Ich war eher ein hoch qualifizierter Spezialist fürs Davonlaufen. Vor Johanna rannte ich davon, weil ich Angst um meine subjektive Freiheit hatte. Vor Marianna war ich aus Angst vor dem Risiko davongelaufen. Ich hatte Angst gehabt, Neuland zu betreten und zu scheitern. Dabei war es um nichts anderes als zwei Wochen auf einer Insel im Süden gegangen. Aber in zwei Wochen Traumsommer mit einer Frau wie Marianna hätte ich wohl irgendwann einmal die Hose herunterlassen müssen.
    Natürlich hatte es auch andere Gründe für mein Kneifen gegeben. Natürlich hatte ich kein Geld gehabt und natürlich hatte mich auch die Nachricht von Johannas Schwangerschaft überrascht. Natürlich war es nett von mir gewesen, daheim zu bleiben und einen Job für den Sommer zu suchen statt das Abenteuer im Atlantischen Ozean. Und natürlich gab es da immer noch irgendwie Sabine. Aber jetzt sah das Ganze für mich doch wieder wie ein großes Scheitern aus. Was immer ich mir einredete, mein Rückzug war irgendwie doch eine neuerliche Kapitulation vor meinen Minderwertigkeitskomplexen gewesen. Anders ausgedrückt: Wenn ich einen längeren Schwanz gehabt hätte, wäre ich jetzt wohl auf Teneriffa gewesen.
    Auf dem Heimweg erinnerte ich mich an ein Bierfest in Hainfeld. Es hatte zwei Wochen, nachdem mich Sabine zum zweiten Mal verlassen hatte, stattgefunden. Ich half damals als Taxifahrer aus und dank dieses Festes hatte ich die ganze Nacht Arbeit. Gegen Mitternacht brachte ich eine ziemlich hübsche junge Frau in einen Nachbarort. Die Fahrt war nicht besonders weit. Am Ende machte sie kaum sechs Euro aus. Doch die Frau nutzte die Zeit, um mich unentwegt durch den Rückspiegel schelmisch anzugrinsen. Sie war offensichtlich ziemlich angeheitert. Als ich sie um das Fahrgeld bat, gestand sie

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