Elfen-Jagd
stand, handelte Tandy. Sie schrieb ihr einen Zettel, in dem sie ihr mitteilte, daß sie ihren Vater besuchen wollte und daß sie sich keine Sorgen machen sollte. Nymphen machten sich ohnehin nur selten Sorgen, also würde das wohl schon genügen. Sie holte einige Schlaftabletten aus dem Versteck, in dem sie schliefen, stopfte sie in ihre Tasche und legte sich aufs Bett. Eine Pille schlief in der Regel mehrere Stunden, bevor sie aufwachte, und sie besaß eine ganze Reihe davon, so daß die Pillen sie die ganze Nacht mit ihrem gemeinsamen Schlaf umfangen würden.
Doch als die Pillen magisch auf ihren Körper einzuwirken begannen und sie in ihren Schlummer hinabzogen, kam Tandy plötzlich ein beunruhigender Gedanke: Was, wenn die Nachtmähren heute nacht nicht kämen? Was, wenn Fiant statt dessen auftauchte, während sie, im Schlaf gefangen, sich nicht wehren konnte? Dieser Gedanke wühlte sie derart auf, daß die erste Nachtmähre sofort an ihre Seite eilte, als sie eingeschlafen war.
Im Traum erblickte Tandy das Geschöpf klar und deutlich: ein mitternachtsfarbenes Pferdewesen mit matt glänzenden Augen – das war das Dämonenstigma! – unter einer flammenden Stirnlocke. Die Mähne glänzte schwarz, der Schweif war ebenholzfarben, und sogar die Hufe wirkten finster. Und doch war es ein hübsches Tier mit prächtigen Gesichtszügen und ausgeprägten Muskeln. Die schwarzen Ohren waren spitz nach vorne gerichtet, die schwarzen Nüstern bebten, und der dunkle Hals machte einen prächtigen Bogen. Tandy erkannte, daß dies ein besonders hervorragendes Exemplar der Gattung war.
»Ich bin am Schlafen«, erinnerte sie sich. »Das ist ein Traum.« Das war es auch tatsächlich: ein böser Traum voller unterschwelliger Strömungen und bizarrer Wogen, voller Furcht und Scham und Entsetzen, die sie niederdrückten. Doch sie kämpfte dagegen an, nahm ihren Mut zusammen und sprang auf das dunkle Pferd zu.
Ihre mühsamen Übungen hatten sich bewährt: Sie schaffte es, kam auf dem Rücken des Pferdes zum Sitzen, packte die weiche, glatte Mähne und umklammerte seinen mächtigen Leib mit ihren Schenkeln.
Einen Augenblick lang blieb die Mähre wie angewurzelt stehen, zu verblüfft, um sich zu rühren. Tandy kannte dieses Gefühl sehr gut. Dann setzte sich das Geschöpf in Bewegung und galoppierte durch die Wand, als wäre sie ein Nichts. Und tatsächlich fühlte sich die Wand auch wie ein Nichts an, denn sie hatten sich dematerialisiert. Die magische Kraft der Nachtmähre erstreckte sich auch auf ihre Reiterin, ähnlich wie es bei den Schlaftabletten gewesen war. Tandy befand sich immer noch im Schlaf und blieb im Traumzustand auf ihrem Reittier sitzen.
Der Ritt war der blanke Horror: Wände schossen an ihnen vorbei wie Schatten und offene Flächen wie Tageslicht, während die Mähre Hals über Kopf (aber nicht Schwanz) davongaloppierte. Tandy hielt sich an der Mähne fest, deren Haare ihr mit beißendem Schmerz in die Hände schnitten, weil sie Angst hatte, loszulassen.
Schon hatten sie die hübsche, ordentliche Wohnung ihrer Mutter weit hinter sich gelassen und jagten durch Felsen und Höhlen, durch Wasser und Feuer und mitten durch die Nester und Horte großer und kleiner Ungeheuer. Sie galoppierten über einen Tisch, an dem sechs Dämonen beim Pokerspiel saßen, und die Dämonen hielten einen Augenblick inne, als überkäme sie ein eisiger Zweifel, ohne daß sie die Nachtmähre jedoch ausmachen konnten. Sie schossen an einer geheimen Zusammenkunft von Kobolden vorbei, die etwas Übles planten, und auch die stutzten einen Augenblick, als ein Hauch von bösen Visionen an ihnen vorbeizog. Die Nachtmähre bahnte sich ihren Weg durch die tiefsten Tiefen Xanths, wo die Gehirnkoralle die lebenden Artefakte Xanths lagerte, und diese bewegten sich unruhig, ohne zu wissen, was sie in Bewegung versetzte. Tandy begriff, daß eine vorüberziehende Nachtmähre in einem wachen Lebewesen einen kurzen, üblen Gedanken erweckte. Nur im Schlaf erhielten diese Gedanken ihre volle Kraft.
Nun stand Tandy vor einem weiteren Problem: Sie mußte ihr Pferd lenken und wußte nicht, wie. Und selbst wenn ihr das möglich gewesen wäre, hätte sie immer noch nicht den Weg nach Schloß Roogna gewußt. Warum hatte sie bloß nicht schon früher daran gedacht?
Na ja, das hier war schließlich ein Traum, und der mußte nicht unbedingt Sinn ergeben. »Bring mich auf Schloß Roogna!« rief sie. »Dort lasse ich dich dann wieder frei!«
Die Nachtmähre
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