Elfenblick
eine Zeit – das ist lange, sehr lange her –, da lebten die Menschen Seite an Seite mit anderen Wesen auf dieser Welt. Es gab Zwerge und Riesen, Gnome und Trolle, Elfen und eine Vielzahl weiterer Wesen, große und kleine, kluge und dumme, gute und böse, mehr, als wir es uns vorstellen können. Die Riesen lebten in den zerklüfteten Gebirgen, die Trolle waren einzelgängerisch und zogen sich in die Ausläufer der Berge zurück. Die Gnome lebten in Erdgruben und waren bekannt für ihr handwerkliches Geschick. Die drei bedeutendsten Völker unter ihnen aber waren die Zwerge, die Elfen und die Menschen.
Die Zwerge waren bekannt als das Volk des Unterreichs. Sie hausten in einem weit verzweigten Geflecht unterirdischer Gänge und Höhlen, fernab von Licht und Luft, und es verwundert nicht, dass ihre Seelen zwar ehrlich und gerecht, sie selbst aber von eher dunklem Gemüt waren.
Das zweite große Volk bildeten die Elfen. Lichtgestalten nannte man sie auch, denn ihre Erscheinung war überirdisch schön. Die Elfen waren groß gewachsen und in ihrer Gestalt den Menschen ähnlich. Jedoch bewegten sie sich mit weit größerer Anmut und Geschicklichkeit. Sie lebten in Wäldern, an Seen und Flüssen und sie bezogen ihre Stärke aus der Natur und ihrer eigenen Magie.
Schließlich waren da auch die Menschen. Die Menschen hatten kein eigenes Reich wie die anderen Völker. Sie siedelten, wo ihnen die Umgebung günstig erschien, und bauten immer größere und schönere Städte. Doch achteten sie darauf, die Lebensräume der anderen Völker nicht zu beeinträchtigen, denn es war eine Zeit, in der ein Lebewesen das andere respektierte und die verschiedenen Kreaturen auf der Erde in großer Eintracht lebten.
Allerdings gab es etwas, das dieses friedliche Gleichgewicht zu zerstören drohte, eine Gefahr, der keines der Völker alleine gewachsen war …« Inga Sigrunsdottir legte erneut eine Pause ein, um einen Schluck Wasser zu trinken.
Mageli hatte eine ihrer Haarsträhnen zwischen Daumen und Zeigefinger aufgezwirbelt und lutschte daran. Erst als sie den leicht seifigen Geschmack wahrnahm, fiel ihr auf, was sie da tat. Das hatte sie zuletzt als kleines Kind gemacht, wenn Jost ihr eine spannende Geschichte vorlas. Schnell strich sie die Strähne hinters Ohr. Sie liebte gute Geschichten, und diese hier war wirklich sehr gut! Selbst Rosann, die sonst nicht viel für Fabelhaftes übrig hatte, schien von der Erzählung fasziniert zu sein. Sie starrte auf die Bühne und spielte mit den Zähnen an ihrem Piercing.
»Diese Bedrohung«, fuhr Inga Sigrunsdottir fort, »waren die Drachen. Es waren riesige, grausige Ungeheuer, primitiv und bösartig. Die Drachen waren gierig und ihr einziges Interesse galt der Vermehrung ihrer Reichtümer. Obgleich sie bereits über unermessliche Schätze verfügten, die sie in ihren Höhlen horteten und bewachten, hatten sie es auf immer weitere Reichtümer abgesehen. Sie begehrten das Gold der Zwerge, den edlen Schmuck der Elfen und die Werkzeuge und Waffen der Menschen. Deshalb begaben sie sich immer wieder auf Raubzüge, und wo sie auftauchten, hinterließen sie eine Spur der Verwüstung.
Alle Völker hatten im Laufe der Zeit schmerzliche Verluste hinnehmen müssen und sie fürchteten um ihre Schätze ebenso wie um ihr Leben. So entstand der Plan, gemeinsam gegen die Drachen zu kämpfen.
Es wurde ein Rat einberufen, zu dem die Anführer der drei größten Völker zusammenkamen: Reckland, König der Zwerge, Sigurd, König der Menschen, und Gwendion, König der Elfen. Sie alle waren mit den erfahrensten ihrer Krieger erschienen und ihre vereinten Streitkräfte bildeten ein beachtliches Heer. Drei Tage und drei Nächte berieten die Könige, und als sie schließlich mit den Männern und Frauen, die sie in den Kampf führen wollten, aufbrachen, da erfüllte sie Zuversicht, dass sie die Drachen besiegen konnten.
Über die Kämpfe der vereinten Völker mit den Drachen gibt es lange Erzählungen, Lieder und Balladen, aber ich möchte Sie nicht mit den Einzelheiten langweilen. Der Krieg zog sich über viele Jahre hin und forderte unter den Kämpfenden auf allen Seiten schreckliche Verluste. Schließlich aber gelang es den Verbündeten, die Drachen zu besiegen und ein für alle Mal zu vernichten. Die Freude unter den siegreichen Kriegern war groß und man feierte ein rauschendes Fest.
In diese Tage des Jubels aber fällt ein Ereignis, das das Zusammenleben der verbündeten Völker fortan auf ewig verändern
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