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Elfenblick

Elfenblick

Titel: Elfenblick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katrin Lankers
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Bühne.
    »Telemann«, sagte sie mit leiser Stimme. Wahrscheinlich konnte die Hälfte der alten Leute sie gar nicht richtig hören. Einige hielten schon die Hände lauschend hinter die Ohren. Etwas lauter ergänzte Mageli: »Dritte Fantasie.«
    Das Stück war gar nicht so schlecht: Ziemlich anspruchsvoll mit sehr schnellen Läufen, aber es klang federleicht, wenn man es vernünftig spielte. Mageli hob die Flöte mit beiden Händen auf Höhe ihres Gesichts. Sie streckte sich, holte tief Luft und leckte sich über die Lippen. Sie liebte diesen Moment: Wenn die Spannung der Musik schon in der Luft zu spüren war, wenn alles bereit war und nur darauf wartete, dass sie den Anstoß gab. Und dann blies sie. Ganz sanft ließ sie die Luft über das Mundstück der Flöte gleiten, hauchte ihr ihren Atem ein, um die Töne aus dem Instrument zu locken.
    Ruhig, fast zögerlich erklangen die ersten Takte aus Magelis Flöte. Lange, intensive Töne, die den Zuhörern Zeit gaben, sich auf die Musik einzustellen. Aber dann zog das Tempo an, eilten die Noten, begann die Melodie, durch Höhen und Tiefen zu jagen wie eine Achterbahn durch Berge und Täler. Mageli schloss die Augen und ließ sich von den Klängen auf ihren Schwingen tragen, immer weiter. Sie vergaß, dass sie auf einer Bühne stand, vergaß die alten Leute und ihre Mitschüler, die zu ihr hinaufstarrten. Vergaß den ganzen Speisesaal um sich herum, das Seniorenstift, die Stadt, den Planeten Erde. Mageli war nur noch Musik.
    Und plötzlich – Mageli hätte später nicht erklären können, wie es dazu kam –, plötzlich waren die Noten nicht mehr die, die sie auswendig gelernt hatte. Was Mageli ihrer Flöte entlockte, hatte nichts mehr zu tun mit Telemanns Fantasie. Es waren Klänge, die so auf keinem Notenblatt zu finden waren. So rein, so klar, so vollkommen, so – überirdisch. Mageli war ganz gefangen von ihrem Spiel. Die Augen fest geschlossen, wiegte sie sich leicht im Rhythmus der Musik. Sie bemerkte weder Jodel-Ursels mörderischen Blick noch die teils befremdeten, teils entsetzten, teils aber auch entzückten Gesichter ihrer Zuhörer.
    Ton um Ton ließ Mageli die fremdartige Melodie aus ihrer Flöte entweichen, gar nicht sicher, ob sie es war, die diese Klänge hervorrief, oder ob die Musik sich selbst ihren Weg suchte. Jeder Ton schien einen kurzen Augenblick in der Luft zu schweben, hin und her zu wabern wie Nebel und dann ganz langsam nach oben aufzusteigen, wo er sich mit den anderen Tönen zu einem wunderbaren Wohlklang vermischte.
    Und dann war es vorüber, so plötzlich, wie es angefangen hatte. Der letzte Ton verabschiedete sich sanft aus Magelis Instrument, hing einen Augenblick wie von einem unsichtbaren Faden gehalten in der Luft – und war verschwunden.
    Mageli ließ die Flöte sinken. Sie öffnete die Augen, hielt den Blick aber sicherheitshalber gesenkt. Sie konnte sich vorstellen, dass Jodel-Ursel wenig begeistert sein würde und auch die Gesichter ihrer Mitschüler wollte Mageli jetzt lieber nicht sehen. Sie hatte das Gefühl, etwas von sich preisgegeben zu haben, das sie Leuten wie Marc, Ben und Jessica besser nicht gezeigt hätte.
    Als Mageli mit schnellen Schritten die Bühne verließ, war aus dem Publikum vereinzelter Applaus zu hören. Das Klatschen ging allerdings fast unter im Stühlerücken. Einige Leute hatten es sehr eilig, ans Büfett zu kommen. Mageli blickte sich suchend um. Wohin war denn Rosann auf einmal verschwunden? Sie wollte jetzt auf dem kürzesten Weg nach Hause oder irgendwo anders hin, jedenfalls raus aus diesem Saal. Als sie durch den Mittelgang stürmte, stellte sich ihr plötzlich eine kleine Person in den Weg. Beinahe hätte sie die alte Frau umgerannt.
    »’tschuldigung«, murmelte Mageli und wollte sich vorbeidrängen. Doch Inga Sigrunsdottir hielt sie am Arm fest.
    »Du hast wunderbar gespielt.«
    »Danke«, brachte Mageli verwirrt heraus.
    »Spielst du schon lange?«
    »Seit der Grundschule.«
    »Wirklich beeindruckend. Hast du das Stück komponiert?«
    Ihr war also aufgefallen, dass Mageli nicht nur Telemann gespielt hatte. Nun, das hatte vermutlich jeder musikinteressierte Mensch bemerkt. Aber wie sollte sie erklären, dass die Musik, die sie gespielt hatte, von niemandem komponiert worden war, am wenigsten von ihr selbst?
    »Nein, eigentlich habe ich nur gespielt, was mir in den Kopf gekommen ist«, versuchte sie zu erklären.
    »Interessant. Wirklich beeindruckend«, sagte Inga Sigrunsdottir

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