Elfenblick
sollte. Sigurd, König der Menschen, war alt geworden. Geschwächt durch die vielen Jahre des Kampfes, starb er noch im Lager der Kämpfer nur kurze Zeit, nachdem der Sieg errungen war. Sein Sohn Tibald folgte ihm auf den Thron. Tibald war jedoch weniger weise als sein Vater. Der junge König sah nicht den Wert des starken Bündnisses mit den anderen Völkern. Er sah nur die Reichtümer, die der Krieg gegen die Drachen eingebracht hatte und die man nach dem Ende der Kämpfe zu gleichen Teilen unter den Verbündeten aufgeteilt hatte. Er wünschte sich, alle diese Reichtümer für sich allein zu haben.
Sie können sich vielleicht denken, wie es weitergeht. In einer dunklen Nacht, in der kein Mond am Himmel stand und die Wolken die Sterne verdeckten, rief der junge König seine Gefolgsleute zusammen. Sie beluden sich mit allen Schätzen, die die siegreichen Kämpfer den Drachen abgenommen hatten. Sie hatten schwer zu tragen an all dem Gold, doch Tibald trieb sie an, als säße ihnen der Feind im Nacken. Tatsächlich hatten sich die betrogenen Verbündeten, kaum hatten sie Tibalds Verrat bemerkt, wutentbrannt an dessen Verfolgung gemacht. Als sie aber die Hauptstadt der Menschen erreichten, hatte Tibald alle Schätze bereits gut in den tiefsten Verliesen seines Schlosses verwahren lassen und alle kampferprobten Männer und Frauen seines Reiches herangezogen, um sie zu verteidigen.
Die Elfen und die Zwerge waren tief bekümmert über den Verrat ihres einstigen Verbündeten, doch noch mehr schmerzte es sie, nun gegen die Krieger kämpfen zu müssen, an deren Seite sie zuvor die Drachen besiegt hatten. Es war eine blutige, grausame Schlacht, die dort vor Tibalds Schloss geschlagen wurde, denn die Kämpfer kannten die Stärken und die Schwachstellen ihrer Gegner genau. Schließlich entschied die reine Überzahl der Elfen und Zwerge.
Die Menschen, die das Gemetzel überlebt hatten, zogen sich zurück und gewährten den Siegern den Zugang zu dem erbeuteten Schatz. Tibald aber hatte, kaum war der Ausgang der Schlacht abzusehen, die Flucht ergriffen.
Tief enttäuscht vom Verrat der Menschen, entschieden die anderen Völker, dass sie sich nie wieder auf ein Bündnis mit ihnen einlassen wollten. Ja, mehr noch: Sie wollten verhindern, dass es den Menschen je wieder gelingen könnte, in ihr Leben einzugreifen. Und so schlossen sie ein Abkommen mit denjenigen, die im Kampf gegen die Drachen ihr Leben gelassen hatten und in die Zwischenwelt hinübergegangen waren. Die Geister der Verstorbenen öffneten ihnen die Tore und die Völker zogen sich dorthin vor den Menschen zurück.
Die Zwischenwelt aber ist das, was wir auch die verborgene Welt nennen. Denn sie ist ein Reich, das für die Menschen unsichtbar bleibt, obgleich es in ihrer eigenen Welt existiert. Seither leben die Elfen und die Zwerge, die Gnome, die Trolle und die Riesen sowie alle anderen kleinen und großen Wesen ebenso wie die Geister der Verstorben verborgen vor den Menschen. Kaum ein Mensch hat je wieder einen von ihnen zu Gesicht bekommen. Nur den allerwenigsten ist es vergönnt, sei es durch eine besondere Gabe oder weil es ihnen gestattet wird. Allerdings sind viele der einstigen Verbündeten auch nach Tausenden von Jahren noch erbost über die Untreue der einstigen Gefährten. Deshalb tun die Menschen gut daran, niemals ihr Missfallen zu erregen.«
Rosann rammte ihren Ellenbogen unsanft in Magelis Rippen. »Der Schlaf ist die Nabelschnur, durch die das Individuum mit dem Weltall zusammenhängt«, raunte sie ihr zu.
»Autsch, was …?«
»Christian Friedrich Hebbel.«
»Hä?«
»Du bist dran!«
»Mist!« Mageli sprang auf. Ihre Mitschüler schauten schon gespannt in ihre Richtung, einige tuschelten.
Mageli hatte nicht geschlafen. Wenn überhaupt, hatte sie geträumt. Von einer Welt voller Zwerge, Elfen und Drachen, so wie Inga Sigrunsdottir sie beschrieben hatte. Die alte Frau saß nicht mehr auf der Bühne, stattdessen stand wieder die beleibte Dame im Blumenkleid am Mikro und blickte sich suchend um. Als ihre Augen an Mageli hängen blieben, nickte sie ihr auffordernd zu.
»Wie gesagt wird uns jetzt noch eine der Schülerinnen von Frau Ursulin etwas auf ihrer Flöte darbieten. Danach ist dann das Büfett eröffnet.«
Mageli umschloss ihre Querflöte fest mit der Hand und drängte sich an Rosann vorbei in den Gang. In ihrer Eile stolperte sie fast die Stufen zur Bühne hoch. Die geblümte Frau ging zur Seite und Mageli trat unsicher an den Rand der
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