Elfenblick
mein Bestes geben.«
Damorian wartete auf eine Antwort. Als er keine erhielt, nahm er an, dass er damit entlassen war. Er verbeugte sich noch einmal tief vor der Gestalt im Schatten und ging dann eiligen Schrittes aus dem Raum, die Hand noch immer am Heft seines Schwertes.
Den nächsten Schulvormittag verbrachte Mageli wie in Trance. Nach ihrem Albtraum hatte sie in der vergangenen Nacht nicht mehr geschlafen, stattdessen hatte sie sich hin- und hergewälzt, geweint, bis das Kissen klatschnass war, und sich gefragt, ob sie das Richtige getan hatte. Dabei hatte sie ja gar nichts getan. Denn das alles war nur ein Traum gewesen! Immer wieder betete sie sich diese drei Worte vor: Nur ein Traum ! Und dann heulte sie wieder, bis sie keine Tränen mehr hatte.
Ihre Augen brannten vom Schlafmangel und den vielen Tränen. Sie starrte auf die Tafel, doch die Buchstaben und Zahlen verschwammen zu unlesbaren Zeichen. Immer wieder fielen ihr die Augen zu. Ihr Hirn fühlte sich an, wie mit Matsch gefüllt. Der Unterricht, die Sticheleien der anderen und selbst Rosanns liebevolle Trostworte gingen ihr zum einen Ohr rein und ungehört zum anderen wieder hinaus. Die meiste Zeit versteckte sie sich hinter einem Haarschleier und versuchte, nicht in Tränen auszubrechen. Zum Glück ließen die Lehrer sie in Ruhe – wahrscheinlich hatten sie Mitleid mit Mageli, die mit ihrem roten, geschwollenen Gesicht wirklich erbärmlich aussah.
Rosann verschwand bereits in der zweiten großen Pause. Susa musste eine Großlieferung an Tischdekoration für ein Galadinner mit dreihundert Gästen vorbereiten und Rosann sollte ihr helfen. Ob die Gestecke wohl entfernte Ähnlichkeit mit Trauerkränzen haben würden? , fragte Mageli sich, schob den Gedanken aber sofort wieder beiseite – und in ihren Kopf kehrte die Leere zurück. Rosann hatte ihr tröstend durch die Haare gewuschelt und ihr ein paar aufmunternde Worte zugeflüstert, bevor sie gegangen war. Mageli konnte sich allerdings nicht mehr erinnern, was sie gesagt hatte.
Nach der letzten Stunde packte Mageli ihre Bücher und Hefte mit kaum zu überbietender Langsamkeit in den Rucksack, dass Frau Bennings sie schließlich bat, sich ein bisschen zu beeilen, damit sie die Klasse zuschließen konnte. Dann schlich sie zur Haltestelle. Der Bus war natürlich schon weg, aber das war ja auch das Ziel der Trödelei gewesen. Mageli wollte sich heute lieber nicht eine ganze Busfahrt lang Marcs und Bens bissige Kommentare anhören müssen. Der nächste Bus Richtung Neuenburg fuhr allerdings erst in einer Stunde. Mageli ließ sich auf die Bank im Wartehäuschen fallen, schmiss ihren Rucksack neben sich, lehnte sich gegen die hölzerne Rückwand und schloss die Augen.
Erst hatte sie überlegt, nicht zu der Verabredung mit Inga zu erscheinen. Ein gemütliches Beisammensein bei Kaffee und Kuchen – darauf hatte sie wirklich keine Lust. Und auf spannende Geschichten über Elfen und andere wundersame Wesen auch nicht. Darauf am allerwenigsten.
Aber dann dachte sie, dass es eigentlich egal war und dass es schlimmer kaum noch werden konnte. Und es war immer noch besser, bei Inga rumzuhängen als zu Hause bei Linda und ihren Brüdern. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, sehnte sie sich doch nach Ingas Geschichten, weil sie eine Verbindung darstellten zu dem, was Erin war oder zu sein vorgab, oder besser gesagt zu dem, was ihre Fantasie ihr über Erin eingegeben hatte. Oder wie auch immer.
Sie zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Das Letzte, was sie jetzt wollte, war einzuschlafen – und womöglich von Erin zu träumen. Also betrachtete sie aufmerksam die Kritzeleien, die Generationen von Schülern an den Wänden des Wartehäuschens hinterlassen hatten. Blöde Sprüche, hingeschmiert mit Kugelschreibern und Eddings auf das dunkle Holz. Eingeritzte Herzen mit Namen und Daten: Lukas liebt Elena, 13.5.2006. Lilly liebt David, 27.3.2004. Tom liebt Kirsten, 6.10.1997.
Mageli liebt Erin. Für immer. Dachte sie. Und schluckte, weil ihr schon wieder die Tränen hochstiegen. Schnell wandte sie den Blick ab und betrachtete den alten knorrigen Baum, der gegenüber der Bushaltestelle hinter einer dicken Steinmauer stand. Sie fing an, die Blätter an dem dicken Ast zu zählen, der über die Mauer ragte, gab das sinnlose Unterfangen aber schnell wieder auf.
Eine Zeit lang beobachtete sie eine leere Styroporverpackung, die vermutlich einmal einen Hamburger beherbergt hatte und jetzt vom Wind auf der Straße
Weitere Kostenlose Bücher