Elfenblick
nippte an ihrem Kaffee, schließlich ergriff sie wieder das Wort.
»Was wirst du mir denn heute auf deiner Flöte vorspielen?«, fragte sie erwartungsvoll.
»Oh, nein, die habe ich zu Hause vergessen.« Wie peinlich! Dabei hatte sie Inga fest versprochen, noch etwas für sie zu spielen. Die Isländerin schnalzte missbilligend mit der Zunge, sah Mageli aber nicht wütend, sondern nur etwas erstaunt an.
»Du solltest achtsamer mit deinen Gaben sein«, sagte sie eindringlich.
Mageli verstand nicht, was sie meinte, traute sich aber nicht nachzufragen. Schnell schob sie sich noch ein großes Stück Apfelkuchen in den Mund.
»Würdest du mir trotzdem noch etwas erzählen?«, bat sie kauend. Zum Glück konnte sie Inga damit ein kleines Lächeln entlocken.
»Du weißt, wie du eine alte Frau um den Finger wickeln kannst. Natürlich werde ich dir etwas erzählen, gern sogar. Was möchtest du hören?«
Mehr Geschichten , wollte Mageli spontan sagen. Aber dann fiel ihr eine Frage ein, die sie sich schon beim Sommerfest gestellt hatte. »Woher kennst du all die Geschichten?«
»Von meiner Großmutter.« Inga lächelte in sich hinein. »Ich habe meine Kindheit auf dem Bauernhof meiner Großeltern verbracht. Mein Vater starb, als ich noch kein Jahr alt war, und meine Mutter kehrte mit mir zurück auf den kleinen Hof ihrer Eltern. Meine Großeltern führten kein leichtes Leben, das habe ich bereits als Kind begriffen. Es war voller Arbeit von früh bis spät, und es wurde sicher nicht leichter, als plötzlich zwei Mäuler mehr zu stopfen waren. Aber ich habe meine Großeltern niemals klagen gehört.
Mein Großvater war wortkarg, meine Großmutter konnte jedoch Geschichten erzählen wie keine zweite. Viele Abende verbrachten wir gemeinsam vor dem Feuer in der Wohnstube, sie nähte und strickte und stopfte, ihre Hände standen niemals still. Und ich … hörte zu. Denn meine Großmutter kannte Tausende von wunderbaren Geschichten, und sie erzählte, als wären all diese fabelhaften Wesen in ihrem Kopf lebendig und sie müsse sie nur von Zeit zu Zeit hinauslassen.«
Mageli hörte begeistert zu. Sie konnte sich die Szene bildlich vorstellen und hatte plötzlich das Gefühl, sie wäre gern dabei gewesen.
»Sag mal, wie alt bist du eigentlich?«, fragte Mageli, ohne nachzudenken. Erst Ingas belustigter Gesichtsausdruck brachte sie auf den Gedanken, dass ihre Frage unhöflich gewesen sein könnte. »Ich meine, wenn es dir nichts ausmacht, mir dein Alter zu verraten …«, stotterte sie. Nun sah Inga noch amüsierter aus.
»Nein, gar nicht, meine Liebe. Seit meinem hundertsten Geburtstag bin ich auf jedes Jahr stolz, dass ich gesund hinzurechnen kann. Und der liegt mittlerweile auch schon achtundfünfzig Jahre zurück.«
»Du bist …?« Nein, das konnte nicht sein. Mageli stockte. Sie musste sich verhört haben. Oder wollte Inga sie veräppeln? In den Augen der alten Dame funkelte es verdächtig.
»Möchtest du noch Kuchen?« Inga tat, als würde sie Magelis Verwirrung gar nicht bemerken.
»Gern.« Mageli riss sich zusammen, lud ein weiteres Stück auf den Teller und nahm reichlich Sahne dazu.
»Hast du als Kind alle diese Geschichten geglaubt?«, hakte sie nach.
»Nicht nur als Kind«, antwortete Inga. »Diese Geschichten sind für Isländer keine Märchen oder Legenden. Die verborgene Welt ist für uns bis heute genauso wirklich wie die sichtbare. In vielen anderen Ländern der Welt hat es ähnliche Überlieferungen gegeben und zum Teil gibt es sie immer noch. Doch fast alle Menschen haben aufgehört, diesen Geschichten zu glauben. Die meisten Isländer hingegen hegen keine Zweifel, dass die Überlieferungen über das verborgene Volk wahr sind. Bei uns gibt es deshalb Spezialisten, die sich darauf verstehen, die Wohnorte des verborgenen Volkes zu bestimmen. Sie fertigen Karten an, auf denen diese Orte eingezeichnet werden, damit nicht durch ein Bauvorhaben, eine neue Straße oder ein Haus das verborgene Volk gestört wird. Denn niemand will sich den Zorn der Bewohner der verborgenen Welt zuziehen. Du weißt, warum.«
»Und du, hast du schon einmal Elfen oder Zwerge gesehen?« Mageli war plötzlich ganz aufgeregt. War es etwa doch möglich, dass an diesen Geschichten über Fabelwesen etwas Wahres dran war? Dass an Erins Geschichte etwas Wahres dran war …?
»Ja, das habe ich tatsächlich«, sagte Inga. »Aber es sind nur die Elfen, die sich mir gelegentlich zeigen. Und die erste Begegnung liegt bereits viele Jahre
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