Elfenblick
zurück.« Ein verträumter Ausdruck trat in Ingas faltiges Gesicht, als würde sie sich auf eine Zeitreise in die Vergangenheit begeben. Gedankenverloren spielte sie mit ihren knotigen Fingern an einem silbernen Amulett mit einem großen glänzenden Stein, das an einer dünnen Kette um ihren Hals hing. Mageli rutschte unruhig auf dem durchgesessenen Sofa hin und her.
»Ich war noch sehr klein, vielleicht vier Jahre alt, und wie so oft allein im Wald unterwegs. Ich spielte auf einer Lichtung mit einigen Steinen und Stöckchen, die ich gesammelt hatte, und war ganz versunken in meine Beschäftigung. Da hörte ich plötzlich ein leises Wimmern. Erst konnte ich es nicht zuordnen, doch dann mischten sich Schluchzer hinein, und ich begriff: Jemand ist in Not! Ich sprang auf und lief in Richtung des Weinens. Und da entdeckte ich ein kleines Mädchen, vielleicht so alt wie ich selbst, das mit seinem Fuß in die Falle eines Wilderers geraten war. Es hatte Schmerzen und konnte sich nicht alleine befreien. Ich stand wie erstarrt. Denn es war das hübscheste Mädchen, das ich jemals gesehen hatte. Es trug ein weißes, weites Kleid und hatte lange, tiefschwarze Haare, die ihm wie ein glänzender Schleier um den Kopf fielen. Aus riesigen Augen sah es mich bittend an, bis heute erinnere ich mich genau an diesen Blick. Tatsächlich gelang es mir, den Fuß zu befreien. Währenddessen sprachen wir kein Wort, und als ich das Mädchen schließlich nach seinem Namen fragte, war es plötzlich verschwunden. Einfach so, als hätte es sich in Luft aufgelöst. Am nächsten Morgen fand ich auf der Türschwelle zum Haus meiner Großeltern ein Geschenk …«
Mageli platzte fast vor Neugier, doch Inga kam nicht mehr dazu zu erzählen, was das für ein Geschenk gewesen war. Denn in diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und herein kam mit langen Schritten ein junger Mann. Er war Anfang zwanzig, schätzte Mageli, hatte ein schmales Gesicht, hohe Wangenknochen, ein kantiges Kinn und Augen, die in einem ungewöhnlichen Türkis leuchteten. Seine langen, hellblonden Haare hatte er im Nacken mit einem Lederband zu einem Pferdeschwanz gebunden. Witzig, dachte Mageli, ein bisschen sehen wir uns ähnlich. Sogar seine Ohren waren oben spitz, ähnlich wie Magelis. Nur, dass sie den Fremden ausgesprochen gut aussehend fand. Ein Traumtyp!
»’tschuldige«, sagte der verspätete Besucher in Ingas Richtung. »Bin nicht früher losgekommen.«
»Kein Problem, Silas, setz dich«, sagte die alte Frau geduldig.
Silas ließ sich mit einer anmutigen Bewegung in den Sessel gegenüber dem Sofa fallen. Dann schaute er zu Mageli – und plötzlich wurden seine Züge steinhart. Alle Farbe wich aus seinem ohnehin schon blassen Gesicht und er funkelte sie wütend an. Mageli hatte keine Ahnung, was sie falsch gemacht hatte. Vorsichtshalber sank sie ins Sofa und versuchte, sich möglichst klein zu machen.
»Na großartig«, schimpfte Silas. »Was soll das denn schon wieder?«
Inga schüttelte missbilligend den Kopf. »Beruhige dich, es ist nicht, wie du denkst. Sie weiß es noch gar nicht. Vielleicht ist sie ja vertauscht worden«, sagte Inga mit beruhigender Stimme. Mageli konnte sich keinen Reim auf ihre Worte machen, aber bei Silas hatten sie nicht den gewünschten Effekt.
»Oh, toll, Kaffeekränzchen mit einem Wechselbalg. Dir fällt auch immer wieder was Neues ein. Aber am Ende willst du mich doch nur verkuppeln. Vergiss es!« Damit sprang er auf und eilte zur Tür hinaus. Mageli schaute ihm wie versteinert hinterher und verstand rein gar nichts mehr.
»Tut mir leid, Silas ist etwas aufbrausend«, wandte Inga sich entschuldigend an ihre Besucherin.
Doch Mageli kämpfte bereits wieder mit den Tränen. »Das ist einfach meine umwerfende Wirkung auf Männer«, brachte sie gepresst heraus. Und dann kullerten ihr die dicken Tropfen schon über die Wangen. Wütend wischte sie mit dem Handrücken darüber.
»Sch, sch«, versuchte Inga sie etwas unbeholfen zu trösten und klopfte ihr auf die Schulter. »Du kannst wirklich gar nichts dafür. Ich fürchte, Silas hat nicht ganz unrecht. Ich habe es in letzter Zeit etwas übertrieben. Ich wollte wirklich gern, dass er sich nicht mehr so einsam fühlt. Aber die jungen Damen, die ich für ihn ausgesucht habe, schienen ihm nicht zuzusagen. Vielleicht sollte ich es mal mit einem jungen Herrn probieren, aber die sind noch schwieriger zu finden.«
Die Situation war Inga sichtlich unangenehm. Sie griff nach ihrer
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