Elfenblick
sicher, dass auch du einige besondere Fähigkeiten besitzt.«
Mageli fühlte sich sofort etwas besser. Ondulas war wirklich nett zu ihr.
»Würdest du mir den Palast zeigen?«, fragte sie.
»Natürlich. Was wäre ein Stadtrundgang ohne einen Besuch beim Palast!« Ondulas deutete nach oben. »Wir müssen aber einige Etagen höher fahren, damit du den besten Blick genießen kannst.«
Wieder schloss er die Augen, und kurz danach drehte sich einer der hölzernen Aufzüge, die Mageli nun bereits kannte, zu ihnen herab. Dieser war größer als der erste, sodass sie beide problemlos darauf Platz fanden.
Oben angekommen, ließ der Elf ihr den Vortritt. Mageli betrat eine der vielen Plattformen und warf als Erstes einen Blick nach unten. Ups! Das war tief! Mageli fühlte sich wie auf einem Wolkenkratzer. Überall unter ihr befanden sich die tropfenförmigen Häuser. Auch über ihr ging es noch auf vielen Ebenen so weiter. Zum ersten Mal wurde Mageli bewusst, wie riesig Enigmala sein musste.
»Wie viele Elfen leben hier eigentlich?«, fragte sie Ondulas.
»Mehrere Zehntausend«, gab er zur Antwort. Als er sah, wie beeindruckt Mageli von dieser Zahl war, fügte er hinzu: »Alle Lichtelfen, die in der alten Welt weit verstreut lebten, haben sich damals hier zusammengefunden … fast alle.«
Erst jetzt fiel Mageli auf, dass sie bislang in der ganzen Stadt niemanden hatte herumlaufen sehen. Das kam ihr nun sehr seltsam vor.
»Wo sind denn eigentlich die anderen Elfen?«
»Tja.« Ondulas suchte nach den richtigen Worten. »Die Bewohner von Enigmala leben recht zurückgezogen. Das war früher nicht so. In der alten Welt waren unsere Siedlungen voller Leben, unsere Tage voller Musik und unsere Feste farbenprächtiger und ausgelassener als die aller anderen Völker. Aber seit wir hier unter der Erde leben …« Seine Stimme verklang und der Rest des Satzes blieb ungesagt.
Mageli musste einen enttäuschten Eindruck gemacht haben, denn wie um sie zu trösten, fuhr Ondulas fort: »Keine Sorge, du wirst noch einige andere Elfen zu Gesicht bekommen, wenn wir erst beim Palast sind.«
Wie selbstverständlich griff er nach Magelis Hand und zog sie hinter sich her über eine weitere Vielzahl von Brücken und Stegen. Schließlich blieb er so abrupt stehen, dass Mageli beinahe in ihn hineingestolpert wäre, und zeigte mit ausgestreckter Hand nach unten.
Mageli trat einen Schritt vor und fand sich am Rand einer Plattform, die wie ein Aussichtspunkt den Blick auf einen Platz weit unten in der Tiefe freigab. Keine herabhängenden Wurzeln störten das Bild, und Mageli wurde nun doch ein bisschen schwindelig. Das mussten mindestens fünfzig Meter sein, vielleicht mehr. Der offene Platz war riesig und im Gegensatz zu der ausgestorbenen Elfenstadt wirkte er belebt. Gestalten, die von hier oben klein wie Spielzeugfiguren wirkten, eilten von einer Seite zur anderen. Sie alle schienen in eine Richtung zu streben, und als Mageli diesem Strom mit den Augen folgte, um das Ziel auszumachen, sah sie den Palast von Enigmala.
»Wow!«, war das Einzige, was ihr dazu einfiel. Das Gebäude vor ihr erstreckte sich über mindestens zehn Ebenen nach oben, die obersten Etagen waren mit Magelis und Ondulas’ Aussichtspunkt auf einer Höhe. Wie alle anderen Häuser in der Elfenstadt bestand der Palast aus tropfenförmigen Holzgebilden; diese waren allerdings so kunstvoll ineinander versetzt und zusammengefügt, dass der Eindruck einer geschlossenen Fassade mit dem denkbar beeindruckendsten Muster aus riesigen Tropfen entstand. Die Maserung der Außenwand wirkte wie ein verschlungenes Dekor, ein Eindruck, der noch dadurch verstärkt wurde, dass die gesamte Front glänzte, als wäre sie poliert. Das Holz verbreitete einen so warmen Schimmer, dass Mageli das Gefühl hatte, es auf ihrer Haut zu spüren. Am schönsten aber waren die langen Reihen fächerförmiger Pilze, die an der Außenfassade wuchsen und in allen Farben des Regenbogens schimmerten. Mageli ließ ihre Augen wieder an diesem baulichen Kunstwerk hinabwandern und wiederholte: »Wow!«
»Es gefällt dir, nicht wahr?« Ondulas’ Augen blitzten, als freue er sich über Magelis Begeisterung. Doch dann fiel ein Schatten über seinen Blick. »Auch der Palast war früher natürlich noch schöner. Am Anfang war alles noch schöner. Aber seit einigen Jahren …« Wieder ließ er den Satz unbeendet.
»Noch schöner?« Mageli konnte sich das kaum vorstellen, beließ es aber dabei, weil sie den traurigen
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