Elfenblick
Zeit zu Ondulas hochschauen musste. Der Elf lachte ein warmes Lachen.
»Dann mache ich dir einen Vorschlag: Du kommst herauf zu mir und ich zeige dir die Schönheiten von Enigmala.« Ondulas breitete einladend beide Arme aus.
»Enigmala?« Mageli legte fragend den Kopf zur Seite.
»Unsere Elfenstadt. So haben wir sie genannt.«
»Aha.«
»Kommst du?«
»Ja, schon …« Unschlüssig schaute sie sich um. »Aber wie?«
Der Elf lachte wieder. »Stimmt, woher solltest du das wissen? Warte.« Damit schloss er kurz die Augen und schien sich auf etwas zu konzentrieren. Und plötzlich wand sich aus der Höhe eine dicke Wurzel herab, als würde sie von einer unsichtbaren Spule abgerollt. Direkt vor Mageli blieb das Gebilde in der Luft hängen, und Mageli sah, dass es eine schneckenförmige, kleine Plattform bildete.
»Aufsteigen«, rief Ondulas ihr zu.
Mageli war so verblüfft, dass sie seine Aufforderung befolgte, ohne nachzudenken. Der ungewöhnliche Aufzug war gerade groß genug, dass Mageli darauf stehen konnte. Während sie noch nach einem Griff suchte, um sich daran festzuhalten, setzte er sich wieder in Bewegung, so sanft, dass Mageli die Fahrt kaum spürte. Festhalten war überflüssig. Wenige Augenblicke später stand sie neben Ondulas.
»Angenehme Fahrt gehabt?«, sagte er scherzhaft.
»Wie …« … ist das möglich? , wollte Mageli fragen, verkniff sich ihre Neugier aber. In der Elfenwelt schienen viele Dinge möglich zu sein. Und sie wollte Ondulas gegenüber nicht allzu unwissend erscheinen. Der Elf hatte ihr ohnehin bereits den Rücken zugewandt und war mit großen Schritten vorausgegangen. Mageli beeilte sich, ihm zu folgen.
Schnell begriff sie, wie die Elfenstadt aufgebaut war. Ondulas führte sie über die unterste Ebene, über ihren Köpfen gab es aber noch unzählige andere. Jede bestand aus den runden, wabenartig zusammengefügten Wohnstätten der Elfen, die wie dicke Tropfen im Wurzelgeflecht hingen. Sie alle waren miteinander durch Brücken, Treppen und Stege verbunden, sowohl vertikal als auch horizontal. In die stärksten Stämme waren Wendeltreppen eingearbeitet, die sich jeweils über mehrere Etagen wanden.
Immer wieder blieb Mageli stehen, um sich die Häuser genauer anzuschauen. Auch wenn sie alle aus dem Holz der Wurzeln herauszuwachsen schienen, waren sie nicht gleich. Schon die Farben der Holzarten variierten von hellem Beige über gelbliches Ocker und sattes Rotbraun bis hin zu tiefem Schwarz.
Viele Wände waren zusätzlich verziert: Zum Teil erinnerten sie Mageli an kunstvolle Intarsien, die sie einmal in einem Museum gesehen hatte, an anderen Stellen wirkten sie wie riesige aufgeschnittene Baumscheiben, auf denen sich die Lebenslinien des Holzes in einer unendlichen Spirale drehten. Wieder andere sahen aus wie geflochten, das Holz der Wurzeln blieb in seiner Struktur erhalten, doch wurde es in die unglaublichsten Formen gebogen. Einige Häuser wiesen kunstvolle Schnitzereien auf, die mal Blumen und Blüten, mal Tiere darstellten.
Die Tür- und Fensteröffnungen der Häuser waren mit Vorhängen aus Zweigen verhangen wie bei Rikjana. Auch diese unterschieden sich in ihrer Art: Manche sahen aus wie bunte Perlenvorhänge, manche bildeten massive Türen. Besonders angetan war Mageli von den Vorhängen, die so fein waren, dass sie wirkten wie luftige Tücher. Wie war es möglich, so etwas aus Holz zu fertigen?
Diese Tücher schienen nicht nur Mageli, sondern auch die Bewohner von Enigmala zu begeistern. An vielen Stellen waren Bahnen davon zwischen den Stegen und Plattformen aufgespannt und überdachten die Geschosse darunter wie transparente Baldachine. Allerdings waren einige zerrissen und hingen in dünnen Fetzen herab, wahrscheinlich war das Material nicht besonders strapazierfähig.
Überall im Holz der Wurzeln befanden sich die winzigen leuchtenden Körnchen, die Mageli bereits auf ihrem Weg im Erdreich gefunden hatte. Sie verströmten einen warmen Glanz, der die ganze unterirdische Stadt in eine Art Tageslicht tauchte. Deshalb versank die Höhlenstadt also nicht im Dunkel! Doch nicht nur die Steinchen leuchteten. Einige herabhängende Wurzeln waren mit Pilzen überwuchert. Die fächerförmigen Gebilde strahlten in allen Farben des Regenbogens, sodass der Eindruck einer bunten Fackel entstand. Leider waren viele der Pilze vertrocknet.
Dabei gab es Wasser genug in der Elfenstadt. Es floss an dicken Wurzeln entlang, die bis zum Höhlenboden hingen und sich dort aus den Armen
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