Elfenblut
Neugier in weitaus stärkerem Maße weckte. Die Wand hinter dem Thron war voll von Bildern und kunstvoll gemeißelten Reliefarbeiten wie alles hier drinnen, aber sie befanden sich in weitaus besserem Zustand als alles, was sie bisher gesehen hatte.
Etwas scharrte, ein Geräusch wie Schritte irgendwo hinter ihr, vielleicht auch ein Schleifen. Pia fuhr erschrocken herum, hob die Fackel höher und spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Aber die einzige Bewegung, die sie sah, waren die tanzenden Lichtreflexe ihrer Fackel und das hundertfache optische Echo, das sie in all den schimmernden Flächen ringsum erzeugten.
Und mehr war da auch nicht gewesen.
Pia rief sich in Gedanken zur Ordnung. Als Nächstes würde sie noch Kettenrasseln hören. Ihre Nerven schleiften offensichtlich über den Fußboden … aber das war in einer Umgebung wie dieser schließlich auch kein Wunder.
Sie lauschte noch einmal – nichts –, drehte sich wieder herum und trat dann dichter an die Reliefarbeiten heran, wobei sie einen respektvollen Bogen um den schwarzen Thron und das aufgerissene Drachenmaul schlug. Auch wenn sie wusste, dass es ganz und gar unmöglich war, konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Blick des steinernen Drachen ihr misstrauisch folgte.
Ärgerlich verscheuchte sie den Gedanken und versuchte sich ganz auf die Bilder zu konzentrieren. Auf den ersten Blick wirkten sie einfach nur verwirrend, eine schier unglaubliche Anzahl winziger gemeißelter Kunstwerke, von denen eines perfekter ausgeführt war als das andere und an denen die Zeit unglaublicherweise fast spurlos vorübergegangen zu sein schien. Aber nach einer Weile glaubte sie doch so etwas wie ein System in diesem vermeintlichen Chaos zu erkennen, und dann, einmal darauf aufmerksam geworden, fiel es ihr sogar erstaunlich leicht, all die künstlerischen Details und Übertreibungen auszublenden, und ihr wurde klar, was sie da wirklich sah.
Das gigantische Relief erzählte eine Geschichte.
Die Geschichte der Elfenkriege.
Pia machte noch einmal kehrt und ging zum Anfang des Reliefs zurück. Das flackernde Licht der Fackel offenbarte ihr nicht nur jedes winzige Detail, sondern erfüllte die Bilder auch mit Bewegung und der unheimlichen Illusion von Leben. Sie sah die Geschichte der Elfenkriege, verkürzt, heroisiert und alles andere als objektiv dargestellt, und trotzdem, wie sie einfach wusste, zumindest in der Abfolge richtig. Es begann mit der ersten Landung der fremden Krieger, die auf ihren unheimlichen lebenden Schiffen über das Meer aus dem Osten gekommen waren, hochgewachsene Gestalten in schimmernden Rüstungen und mit hohen spitzen Helmen und tödlichen Schwertern, die Leid und Chaos über das Land und seine Bewohner brachten. Sie sah brennende Städte und sterbende Menschen, Leid in tausendfacher Gestalt, gewaltige Schlachten, heroische Krieger und grässliche Niederlagen, dann schließlich die Wende, die mit der Ankunft weiterer lebender Schiffe voller spitz behelmter Gestalten aus dem Osten einherging. Der Krieg entflammte neu, mehr Schlachten wurden geschlagen, mehr Städte brannten, und Ströme von Blut färbten die Flüsse rot. Und schließlich das Erscheinen Prinzessin Gaylens und der Verrat des Hochkönigs, genau wie Brack es ihnen berichtet hatte.
Aber damit hörte die Geschichte nicht auf.
Der Krieg endete, die Elfen verschwanden wieder in ihrem unbekannten Reich hinter dem Ozean, doch das Relief erzählte die Geschichte zu Ende und zeigte nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft.
Es zeigte sie selbst.
Pia stand lange, sehr lange vollkommen reglos da und starrte das in Stein gemeißelte Bild an, das eine junge Frau in einem schlichten, hellen Gewand zeigte, die die Hände nach etwas wie einem riesenhaften Diamanten ausstreckte, der auf einem steinernen Tisch vor ihr lag. Zahlreiche Männer in schimmernden Rüstungen mit spitzen Helmen knieten in demütiger Haltung vor ihr, und etwas … würde geschehen, wenn sie den Kristall berührte, etwas Gewaltiges und Furcht einflößendes, das die Geschichte der Welt grundlegend verändern musste. Diesmal war es keine innere Stimme, die Pia diese Erkenntnis zuflüsterte. Das Wissen war in diesem Bild. Irgendwie war es dem Künstler, der es erschaffen hatte, gelungen, mehr in seine Arbeit zu bannen, als ihre Linien zeigten. Sie sah, was geschehen würde, wenn Gaylen zurückkam.
Wenn … sie zurückkam?
Pia versuchte vergeblich, diesen Gedanken als so lächerlich
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