Elfenblut
gleich ob Mann oder Frau, war deutlich kleiner als sie. Selbst Alica, die ihr kaum bis zur Nasenspitze reichte, musste als groß gelten.
»Wartet hier«, sagte Brack japsend. »Ich bin gleich zurück.«
Er watschelte davon und näherte sich einem Mann in einer bunten Operettenuniform – Harnisch, Helm und Mantel –, der neben dem Tor an der Wand lehnte und sich halb gegen die Mauer, halb auf einen langen Speer stützte und ganz so aussah, als würde er im nächsten Moment im Stehen einschlafen. Daran änderte sich auch nichts, als Brack heftig zu gestikulieren begann und in ihre Richtung deutete.
»Ein freies Land, in dem jeder hingehen kann, wo er will, wie?«, schnaubte Alica.
Pia konnte ihr nur zustimmen, beschränkte sich aber auf ein wortloses Nicken. Noch aufmerksamer sah sie sich um und schlug schließlich sogar die Kapuze zurück, um mehr erkennen zu können.
Der Eindruck, sich in einer sorgsam restaurierten mittelalterlichen Stadt zu befinden, verstärkte sich … auch wenn in diesem Teil der Stadt das Wort Festung eher angebracht gewesen wäre. Direkt vor ihnen strebte eine mindestens sieben oder acht Meter hohe, aus grobem Naturstein erbaute Mauer empor, die von einem zinnengesäumten offenen Wehrgang gekrönt wurde, auf dem Männer in schweren Rüstungen und mit noch schwereren Mänteln patrouillierten. Pia fiel auf, dass sie nicht nur das Gelände außerhalb der Stadt im Auge behielten, sondern sich in regelmäßigen Abständen auch umdrehten und ihre Blicke misstrauisch über die Straßen wandern ließen. Und sie spürte regelrecht, wie gerade sie sehr aufmerksam und misstrauisch beäugt wurde. Vielleicht war es ihr helles Haar, das die Neugier der Männer erweckte. Niemand hier war barhäuptig und alle schienen dunkelhaarig zu sein. Vielleicht fiel auch nur ihre Größe auf. Oder alles zusammen.
Pia verscheuchte den Gedanken und setzte ihre Beobachtung fort. Rechts und links des erstaunlich niedrigen Tores erhoben sich zwei wuchtige Türme, gut doppelt so hoch wie die Mauer und mit gedrungenen Schieferdächern, und als sie sich langsam herumdrehte, gewahrte sie über den Dächern hinter sich das passende Gegenstück: ein düsteres Bauwerk im Zentrum der Stadt, das aussah, als hätte man es aus einem Dutzend unterschiedlich hoher und breiter Türme wahllos zusammengefügt; wahrscheinlich die zentrale Festung dieser ach so freien Stadt. Vielleicht hätte sie sich mit Brack etwas ausführlicher über die genaue Bedeutung des Wortes Freiheit unterhalten sollen …
Ein Vogel schrie. Pia sah ganz automatisch auf, blinzelte in eine weiße, unerwartet helle Sonne, die aus einem vollkommen wolkenlosen Himmel von schon beinahe unanständig kräftig blauer Färbung strahlte, und sah im ersten Moment eigentlich gar nichts. Dann gewahrte sie einen verschwommenen, dreieckigen Schatten, der hoch über der Stadt kreiste und in kleiner werdenden Spiralen tiefer zu steigen schien. Etwas an dem Anblick beunruhigte sie, doch sie konnte nicht sagen, was es war.
Brack kam zurück, mit rot gefrorenem Gesicht, aber anscheinend sehr zufrieden. »Ihr könnt gehen«, sagte er. »Ich habe meine Beziehungen spielen lassen und mit der Wache gesprochen.«
»Und wozu?« Pia sagte sich selbst, dass es sinnlos war, aber sie konnte sich diese Frage auch nicht verkneifen. »Ich meine: Wozu Beziehungen spielen lassen, wenn doch hier jeder hingehen kann, wo er will?«
»Übertreib es nicht, Mädchen«, sagte Brack ernst. »Immerhin riskiere ich Kopf und Kragen für euch.«
»Ich frage ja schon gar nicht mehr, was er gesagt hat«, sagte Alica.
»Gut«, antwortete Pia.
»Kommt, ich begleite euch noch bis durch das Tor«, sagte Brack, fuhr dann leicht zusammen und legte den Kopf mit einem Ruck in den Nacken. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich schlagartig. Pia sah ebenfalls auf und bemerkte zweierlei: Der Vogel war näher gekommen und schwebte auf ausgebreiteten Flügeln nahezu reglos in der Luft über ihnen. Und jetzt erkannte sie ihn auch. Es war ein riesenhafter schwarzer Rabe.
»Verdammter Spion«, murmelte Brack.
»Wie meinst du das?«, fragte Pia alarmiert.
»Nichts.« Brack grinste plötzlich wieder und machte dann eine fast befehlende Geste. »Bedecke dein Haar, Mädchen. Draußen ist es kalt.«
Was glaubt er denn, was es hier ist?, dachte Pia verblüfft, zog aber trotzdem gehorsam die Kapuze hoch, schon um dem Wind etwas von seinem eisigen Biss zu nehmen. Nicht dass es irgendetwas half.
Das Tor war zwar so
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