Elfenherz
insgeheim ein leeres Stück Papier erwartet, das sie wie Dave zerknüllen und hochwerfen müsste, aber auf ihrem Zettel standen Wörter in derselben schnörkeligen Schrift wie auf dem Etikett der Flasche mit dem bernsteinfarbenen Sand:
»Komm unter den Pfeiler der Manhattan Bridge und klopfe dreimal an den Baum, der dort steht, wo kein Baum stehen dürfte.«
Val steckte den Zettel in die Tasche und stieß dabei an etwas. Sie holte es heraus: Eine silberne Geldklammer mit einem großen unbehandelten Türkis in der Mitte und einem Zwanziger, zwei Fünfern und mindestens zehn Ein-Dollar-Scheinen.
Hatte sie das Geld genommen? Oder Lolli? Val wusste es nicht. Sie hatte noch nie etwas gestohlen. Einmal war sie im Einkaufszentrum aus einem Laden gegangen und hatte noch ein Rangers-Poster in der Hand. Ihr war gar nicht klar, dass sie es noch nicht bezahlt hatte, bis sie mit ihren Freunden an der Rolltreppe angekommen war. Ihre Freunde waren beeindruckt, deshalb tat sie so, als wäre es Absicht gewesen, aber hinterher hatte sie ein so schlechtes Gewissen, dass sie das Poster nie aufhängte.
Val versuchte, sich an die vergangene Nacht zu erinnern, an die schrecklichen Dinge, die sie offenbar getan hatte, aber es kam ihr vor, als würde sie sich an eine Geschichte
erinnern, die ein anderer erzählt hatte. Es war alles so verschwommen, dass ihre Haut trotz allem vor Sehnsucht nach Nimmermehr juckte.
Val ging im Schneckentempo los; sie fühlte sich zu schlecht für alles andere, hatte Bauchschmerzen. Sie lief die Market Street entlang, vorbei an Asienläden und einem Schaumteeladen, vor dem ein Haufen Teenager stand, die sich unterhielten und lachten. Val fühlte sich ihnen so fremd, als wäre sie hundert Jahre alt. Sie griff nach ihrem Rucksack, weil sie am liebsten Ruth angerufen hätte. Sie hätte so gern mit jemandem gesprochen, der sie kannte, der sie an ihr altes Ich erinnern konnte. Doch ihr Mund tat zu weh.
Über eine Abkürzung kam sie auf die Cherry Street und lief weiter, so nah am East River, dass sie keine Gebäude mehr vor der Nase hatte. Die Lichter der Brücke und jene vom anderen Ufer spiegelten sich schimmernd auf dem Wasser. Ein Frachtkahn war beinahe nur noch als negative Masse erkennbar, hätten am Bug nicht ein paar Lichter geglitzert.
Die Brücke erhob sich direkt über ihr. Jeder einzelne Stützpfeiler sah aus wie ein Schlossturm, mit dem rauen Mauerwerk so hoch über der Straße, rot gefärbt vom Rost der darüberliegenden Metallaufbauten. An dem hochstrebenden Stein entdeckte sie weiter oben Flügelfenster.
Glasscherben knirschten unter Vals Stiefeln, als sie unter dem anmutigen Bogen der Unterführung durchging. Auf dem Bürgersteig stank es nach Urin und Fäule. Auf
der einen Seite versperrte ein notdürftiger Drahtzaun den Zugang zu einer Baustelle, auf der ein Sandhaufen auf seine Weiterverwendung wartete. Auf der anderen Seite, dort wo sie langging, entdeckte sie etwas, das wie eine zugemauerte Tür aussah. Darunter war ein Baumstumpf, dessen Wurzeln sich tief in den Beton gruben.
»Der Baum.« Val trat sachte gegen den Baum. Das Holz war nass und dunkel vor Dreck, aber die Wurzeln verschwanden im Bürgersteig, als wollten sie sich durch die Tunnel und Rohre bis zu einem geheimen fruchtbaren Boden winden. Val überlegte, ob es sich um denselben Baum handelte, der die bleichen Früchte hervorbrachte.
Es war schon unheimlich, hier einen Baumstumpf zu sehen, der sich so an ein Bauwerk schmiegte, als gehörten sie zur gleichen Familie. Doch was sollte daran seltsamer sein als das Märchen, in das sie geraten war? In einem Computerspiel hätte es einen bunten Pixelsturm gegeben und möglicherweise auch noch eine Warnung auf dem Bildschirm, dass sie dabei wäre, die wirkliche Welt zu verlassen: Pforte ins Elfenland. Wollen Sie hindurchgehen? Jal Nein.
Val ging auf die Knie und klopfte dreimal gegen den Stamm. Ihr Klopfen war auf dem nassen Holz kaum zu hören. Eine Spinne krabbelte auf die Straße hinaus.
Als sie ein lautes Geräusch hörte, hob Val den Blick. In dem Mauerwerk über dem Baumstumpf tat sich ein Spalt auf, als hätte jemand dagegengeschlagen. Sie stand auf und streckte die Hand aus, um mit dem Finger über die Linie
zu fahren. Doch als sie die Mauer berührte, zerbröckelten die Steine und gaben einen grob zugehauenen Türrahmen frei.
Val trat durch den Türrahmen hindurch zum Treppenhaus, von dem eine Treppe nach oben und eine nach unten führte. Als sie sich umdrehte, war die
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