Elfenherz
Mauer wieder unversehrt wie zuvor. Namenloser Schrecken erfüllte sie, und nur der Schmerz zwang sie, an Ort und Stelle zu bleiben.
Tripp. Trapp.
»Hallo?«, rief sie die Treppe hinauf. Es tat weh, den Mund zu bewegen.
Tripp. Trapp.
Der Troll erschien am Treppenabsatz.
Wer trippelt über meine Brücke?
»Die meisten Menschen wären eher gekommen.« Seine raue, harsche Stimme dröhnte im Treppenhaus. »Dein Mund muss schrecklich wehtun, wenn er dich jetzt erst hierher getrieben hat.«
»War gar nicht so schlimm«, erwiderte sie und versuchte, nicht zu zucken.
»Komm hoch, du kleine Lügnerin.« Ravus drehte sich um und kehrte in seine Zimmer zurück. Val hastete die Treppe hinauf.
Dicke Kerzen auf dem Fußboden erleuchteten flackernd den großen, loftartigen Raum und warfen Vals verzerrten, angsteinflößenden Schatten an die Wände. Über ihnen ratterten die U-Bahnen und kalte Luft strömte durch die verhangenen Fenster.
»Hier.« Auf der flachen sechsfingrigen Hand bot er ihr einen kleinen weißen Stein. »Saug daran.«
Ihr Mund tat so weh, dass sie keine Fragen mehr stellte. Sie griff hastig nach dem Steinchen und nahm es in den Mund. Der Stein kühlte ihre Zunge und schmeckte erst nach Salz und dann nach nichts mehr. Allmählich verging der Schmerz und damit auch der Rest der Übelkeit, doch an ihre Stelle trat Erschöpfung. »Was soll ich für dich tun?«, fragte sie und drückte den Stein mit der Zunge in die Wange, um überhaupt sprechen zu können.
»Im Augenblick reicht es, wenn du ein paar Regale einräumst.« Er drehte sich um und seihte eine Flüssigkeit, in der Stöcke und Blätter schwammen, aus einem kleinen Kupfertopf. »Kann sein, dass die Bücher sortiert waren, aber da ich die Ordnung nicht begreife, musst du dich nicht daran halten. Stell sie dorthin, wo es für dich Sinn ergibt.«
Val nahm einen der dicken Bände von einem staubigen Stapel. Er war schwer, der Ledereinband rissig und die Bindung faserig. Sie schlug ihn auf. Die Seiten waren handgeschrieben und auf den meisten Seiten fanden sich Aquarelle oder Tintenzeichnungen von Pflanzen. »Amaranth«, las sie still. »Webe es zu einer Krone, um die Heilung des Trägers zu beschleunigen. Als Kranz getragen, verleiht es dagegen Unsichtbarkeit.« Val klappte das Buch wieder zu und schob es auf ein Regal aus Sperrholz und Ziegeln.
Sie rollte den Stein im Mund hin und her wie eine Süßigkeit, während sie die zerlesenen Wälzer des Trolls
einräumte. Dabei nahm sie das Durcheinander aus mottenzerfressenen Armeedecken, dem schmutzigen Teppichboden und den zerrissenen Müllsäcken in sich auf, die als Vorhänge dienten, durch die nicht einmal das Licht der Straßenlampen drang. Neben einem zerschlissenen Ledersessel stand eine feine Teetasse mit Blütenmuster und einer brackigen Flüssigkeit darin. Die Vorstellung, wie der Troll die zarte Tasse in seinen Klauen hielt, entlockte Val ein schnaubendes Lachen.
»Die Schwäche der Beute zu erkennen, ist eine intuitive Fähigkeit begabter Lügner«, sagte der Troll unvermittelt, ohne aufzusehen. Sein Ton war trocken. »Auch wenn es große Unterschiede in unserem Volke gibt, zwischen dem einen und dem anderen und von Ort zu Ort, so ist uns doch eins gemeinsam: Wir können nicht unverhohlen die Unwahrheit sagen. Ich ertappe mich jedoch dabei, von Lügen fasziniert zu sein, so sehr sogar, dass ich wünschte, sie glauben zu können.«
Val gab keine Antwort.
»Hältst du dich für eine geschickte Lügnerin?«, fragte er.
»Eher nicht«, antwortete Val. »Ich falle auf alles rein.«
Er schwieg dazu.
Als Val das nächste Buch nahm, entdeckte sie das Glasschwert an der Wand. Die Klinge war frisch gereinigt; durch das Glas konnte sie das Mauerwerk sehen. Jede Vertiefung im Stein erschien vergrößert und verzerrt, wie unter Wasser.
»Ob es aus Zuckerwatte ist?« Seine Stimme kam ganz
aus der Nähe, und sie merkte, wie lange sie das Schwert schon angestarrt hatte. »Aus Eis? Kristall? Glas? Darüber denkst du doch nach, oder? Wieso etwas, das so zerbrechlich scheint, so solide sein kann?«
»Ich dachte eigentlich nur, wie schön es ist«, erwiderte Val.
»Es ist verflucht.«
»Verflucht?«
»Es verriet einen lieben Freund und kostete ihn das Leben.« Er fuhr mit einem krummen Fingernagel längs über die Klinge. »Mit einer besseren Klinge hätte er seinen Gegner vielleicht besiegen können.«
»Wer... wer war denn sein Gegner?«, fragte Val.
»Ich«, antwortete der Troll.
»Oh.« Val
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