Elfenherz
es jeden Tag taten und manchmal noch häufiger.
Val klopfte auf den Baumstumpf und schlüpfte in die Brücke, aber dem bedrohlichen Tageslicht zum Trotz war Ravus nicht da. Sie überlegte, ob sie mit Fingerfarbe eine Botschaft auf einem zerrissenen Werbezettel des Supermarkts hinterlassen sollte, aber sie war so müde, dass sie lieber noch ein bisschen warten wollte. Als sie sich in einen Clubsessel sinken ließ, lullte der Geruch von altem Papier, Leder und Obst sie ein, sodass sie den Kopf nach hinten sinken ließ und so den Vorhang einen winzigen Spalt breit aufschob. Eine Stunde lang gab sie sich dem Vergessen hin und sah zu, wie die Sonne sank und den Himmel in Flammen setzte. Doch Ravus kam und kam nicht zurück und Val ging es immer schlechter. Ihre Muskeln, die sich eben noch wie bei einem Muskelkater angefühlt hatten, brannten mittlerweile wie ein Wadenkrampf, der einen aus dem Tiefschlaf weckte.
Sie durchsuchte alle seine Flaschen, Zaubertränke und Elixiere, ohne sich darum zu kümmern, ob sie etwas durcheinanderbrachte oder ob die Dinge am falschen Platz landeten. Aber sie fand kein Gramm Nimmer, das ihre Schmerzen hätte lindern können.
Eine Familie packte ihr Picknick zusammen, als Val in den Central Park schlurfte. Die Mutter sammelte die übrig gebliebenen Sandwiches ein und eine schlaksige Tochter schubste einen ihrer Brüder. Val fiel auf, dass die beiden Jungen Zwillinge waren. Zwillinge waren ihr immer ein wenig unheimlich gewesen, als könne nur einer von beiden
echt sein. Der Vater warf Val einen Blick zu, aber dann konzentrierte er sich auf die langen nackten Beine einer Radfahrerin, während er träge weiterkaute.
Val schleppte sich weiter, vorbei an einem See mit dickem Algenteppich, auf dem ein führerloses Boot im Dämmerlicht trieb. Ein älteres Paar ging Arm in Arm am Ufer spazieren und ein Jogger lief prustend um sie herum. Sein MP3-Player wippte an seinem Bizeps. Normale Leute mit normalen Problemen.
Der Weg führte durch einen Hof, in dessen Mauern Beeren und Vögel gemeißelt waren, von Ranken überzogen, so verschachtelt, dass sie beinahe lebendig wirkten. Blühende Rosen und andere, weniger verbreitete Blumen.
Val blieb stehen und lehnte sich an einen Baum, dessen Wurzeln zu sehen waren, verworren wie das Muster der Adern unter ihrer Haut. Die zinnerne Rinde des Stammes war nass und dunkel vor gefrorenem Saft. Val ging schon lange, aber nirgends war ein Schloss in Sicht.
Drei Jungen mit hängenden Hosen kamen vorbei, der eine ließ einen Basketball vom Rücken seines Freundes abprallen.
»Wo ist das Wetterschloss?«, rief sie ihnen fragend zu.
Ein Junge schüttelte den Kopf. »Gibt’s hier nicht.«
»Sie meint Schloss Belvedere«, sagte der andere und zeigte in eine Richtung, für die sie den halben Weg wieder zurücklaufen musste. »Über die Brücke und durch den Ramble.«
Val nickte. Über die Brücke und durch die Wälder. Ihr tat
alles weh, aber sie ging weiter, voller Erwartung des Einstichs der Nadel und der süßen Erleichterung danach. Sie dachte an Lolli, wie sie mit dem Löffel in der Hand am Feuer saß, und hielt die Luft an, als ihr einfiel, dass all ihr Nimmer ja noch immer dort unten war, in den Tunneln, bei der toten Frau. Dann hasste sie sich dafür, dass es das war, was ihr die Luft nahm.
Der Ramble war ein Labyrinth von Wegen, die einander kreuzten, in Sackgassen endeten und wieder kehrtmachten. Einige Pfade schienen so angelegt zu sein, andere waren wohl Fußgängern zu verdanken, die keine Lust mehr hatten, sich an die verschlungenen Wege zu halten. Val trottete weiter, über Laub und Zweige, die Hände in den Taschen, und krallte sich durch das dünne Mantelfutter an ihrer eigenen Haut fest, als könne sie ihren Körper so bestrafen, dass er nicht mehr wehtat.
Im Schutz des Dickichts waren zwei Männer ineinander verkeilt, einer in Anzug und Mantel, der andere in Jeans und Jeansjacke.
Oben auf dem Hügel stand ein großes graues Schloss mit einer Turmspitze, die hoch über den Bäumen aufragte. Es sah aus wie ein altes hochherrschaftliches Anwesen, das gegen die hellen Lichter der City in diesem Dämmerlicht merkwürdig wirkte, völlig fehl am Platze. Als Val näher kam, entdeckte sie eine Ansammlung ausgestopfter Kreaturen, die sie mit ihren schwarzen Augen durch die Fensterscheiben beobachteten.
»Hey«, rief eine vertraute Stimme.
Als Val sich umdrehte, sah sie Ruth; sie lehnte an einer Säule. Bevor sie sich etwas zurechtlegen konnte,
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