Elfenherz
schlechter. Die Muskelkrämpfe verschlimmerten sich derart, dass sie aufstand und sich leise von den anderen entfernte, um sich wenigstens bewegen zu können, ohne die anderen zu stören. Sie kletterte über die Felsen und Steine und weiter durch den Ramble, wo sie welkes Laub von den Ästen schüttelte. Sie trank noch einen Schluck Tee, aber der war eiskalt geworden.
Val war mit der Vorstellung groß geworden, dass es im Central Park noch gefährlicher war als ohnehin in New York. Angeblich lauerten hinter jedem Busch Perverse und Mörder, um unschuldige Jogger zu überfallen. Sie erinnerte sich an zahllose Geschichten in den Nachrichten, in denen jemand erstochen oder beraubt worden war. Doch um diese Zeit war es ganz ruhig im Park.
Val nahm sich einen Stock und machte Ausfallübungen, indem sie die Stockspitze in das Astloch einer dicken Ulme
stieß. Das machte sie so lange, bis auch das letzte Eichhörnchen die Flucht ergriffen hatte. Von der Anstrengung wurde ihr schlecht und schwindelig, und als sie den Kopf schüttelte, meinte sie, Lichter auf einem nahe gelegenen Pfad zu sehen.
Im gleichen Moment frischte der Wind auf, und die Luft fühlte sich aufgeladen an, wie kurz vor einem Gewitter, doch als sie wieder hinsah, war nichts mehr zu sehen. Mürrisch ging sie in die Hocke und wartete, ob jemand auftauchte.
Der Wind peitschte direkt hinter ihr vorbei und riss ihr beinahe den Rucksack vom Rücken. Diesmal hatte sie eindeutig Gelächter gehört, aber als sie sich umdrehte, sah sie nur dicke Efeustränge, die an einem Baum hochrankten.
Da traf sie schon der nächste Windstoß und wehte ihr den Becher aus der Hand, sodass der restliche Tee eine Pfütze bildete und der weiße Becher in den nassen Dreck rollte.
»Aufhören!«, schrie Val, doch in der einsetzenden Stille erschien ihr Geschrei sinnlos, fast unvorsichtig.
Sie wandte den Kopf, als sie ein Pfeifen hörte. Auf einem Baumstumpf saß eine Frau aus Efeu. »Ich rieche deinen Schild, dünn wie ein Hauch von Schnee. Bist du eine von uns?«
»Nein«, antwortete Val. »Ich bin keine Elfe.«
Die Frau neigte den Kopf zu einer leichten Verbeugung.
»Warte. Ich brauche...«, setzte Val an, wusste aber plötzlich nicht, wie sie den Satz zu Ende bringen sollte. Sie
brauchte Stoff, sie brauchte Nimmer, aber sie hatte keine Ahnung, ob die Elfen einen Namen dafür hatten.
»Bist du eine Naschkatze? Armes Wesen, die Feierlichkeiten tragen sich ganz woanders zu.« Die Efeufrau ging an Val vorbei Richtung Brücke. »Ich zeige dir den Weg.«
Val wusste nicht, was die Efeufrau meinte, aber sie ging hinterher - nicht nur weil Lolli und Luis Daves Herz brachen, was sie nicht mitansehen wollte, nicht nur weil die toten Augen der Polizistin sie in der Dunkelheit verfolgten, sondern weil sie im Moment nur interessierte, wie sie ihre Schmerzen loswerden konnte. Und im Rahmen eines Elfenfestes würde sich bestimmt etwas Linderndes finden lassen.
Die Efeufrau führte Val auf die Terrasse mit den in Stein gemeißelten Vögeln und Ästen zurück, zu dem Brunnen in der Mitte und dem See dahinter. Die Elfe raschelte über die Fliesen, eine schwebende Säule aus Grün. Vom Wasser her stieg Nebel auf, der wie silberner Dunst in der Luft hing, bevor er weiter vordrang, zu dicht und rasch, um natürlich zu sein. Vals Haut kribbelte, aber sie war zu betäubt und gequält, um mehr zu tun, als vor dem Nebel zurückzuweichen, der wie die Flut an einen dunklen Strand schlug.
Er ließ sich um sie nieder, warm und schwer, mit einem seltsamen Duft von Fäule und Süße. Musik geisterte durch die Luft, Glockengebimmel, ein Stöhnen, schrille Flötentöne. Val taumelte, umhüllt und geblendet von Nebelwänden. Sie hörte brüllendes Gelächter in der Nähe und drehte
sich um. Hier und da verzog sich der Nebel und gab die Sicht frei auf eine neue Landschaft.
Die Terrasse war noch da, aber die Ranken hatten sich von der Mauer zu wilden Schlingen aufgeschwungen, mit seltsamen Blüten und Dornen, lang und dünn wie Nadeln. Vögel flogen aus ihren gemeißelten Nestern, um an den zum Platzen reifen Trauben zu picken, die vom Treppengeländer hingen. Sie stritten sich mit faustgroßen Bienen um die stählernen Äpfel, die auf dem Pier verstreut lagen.
Auch Elfen waren da. So viele, dass Val sich gar nicht vorstellen konnte, wie sie alle inmitten von städtischem Eisen und Stahl leben konnten; Elfen mit seltsamen Augen und messerspitzen Ohren, in Röcken aus Nesselstrick oder gewebtem
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