Elfenherz
Quieken, als sie endlich Halt fand. Ruth. Einen Augenblick lang blieb sie einfach hängen, aus Angst, sich zu bewegen. Dann zog sie sich an einem Stuckelement hoch und versuchte, das Fenster hochzuschieben. Es klemmte, und eine Schrecksekunde lang fürchtete sie, es wäre verriegelt, aber als sie fester schob, gab es nach. Val kletterte durch die verhedderten Vorhänge ins Haus und landete in Mabrys Schlafzimmer. Der Boden war aus poliertem Marmor und das Bett hatte einen gewundenen Baldachin aus Weidenzweigen und war voll zerwühlter Seide und Satin. Die eine Seite des Bettes war sauber, die andere voll Dreck und Dornen.
Val ging in den Flur. Von hier führten mehrere Türen in leere Räume und am Ende in ein Treppenhaus aus Ebenholz. Als sie nach unten ins Wohnzimmer ging, hörte sie nichts außer dem Knarren der Dielen und dem Plätschern des Brunnens.
Das Wohnzimmer sah so aus, wie sie es im Gedächtnis hatte, aber die Möbel standen anders, und die eine Türöffnung sah größer aus. Val verließ Mabrys Wohnung und betrat den Hausflur des Wohnhauses, wobei sie sorgsam darauf achtete, die Tür zu Mabrys Wohnung sperrangelweit aufzulassen. Sie entriegelte die Haustür von innen und riss sie auf. Einen Augenblick lang starrte Ruth sie fassungslos vom Bürgersteig an, dann rannte sie ins Haus.
»Du bist komplett verrückt geworden«, sagte sie. »Wir sind gerade in ein superfeines Wohnhaus eingebrochen.«
»Es ist durch Zauberei geschützt«, sagte Val. »Ganz bestimmt.« Zum ersten Mal bemerkte Val die beiden Türen, die scheinbar zu anderen Wohnungen führten. Die eine lag gegenüber von Mabrys, die andere am Ende des Hausflurs. Doch bei der Größe der Zimmer und des Treppenhauses in Mabrys Wohnung konnten diese Türen im Verhältnis zu der Größe des Wohnhauses eigentlich nirgends hinführen. Val schüttelte den Kopf, um ihn klarzubekommen. Es spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass sie irgendetwas fand, das den Verdacht auf Mabry lenken würde, einen Beweis dafür, dass sie die Elfen vergiftete, und zwar etwas, das nicht nur Ravus überzeugte, sondern auch Greyan und alle anderen, die Ravus für schuldig hielten.
»Immerhin ist es warm hier«, sagte Ruth, ging in die Wohnung und vollführte eine Pirouette auf dem schimmernden Marmorboden. Ihre Stimme hallte durch die kargen Räume. »Wenn wir schon auf Fassadenkletterer machen, können wir auch gleich im Kühlschrank nachsehen.«
»Wir suchen Beweise dafür, dass sie eine Giftmörderin ist. Nur damit du Bescheid weißt, bevor du dir wer weiß was ins Maul stopfst.« Ruth zuckte die Achseln und ging an Val vorbei ins nächste Zimmer. In einer Ecke stand eine Vitrine, die Val näher untersuchte. Hinter der Glasscheibe lagen ein Stück Rinde, geschmückt mit rotem Haar; ein Ballerinafigürchen mit den Händen in den Hüften und rosaroten Schühchen; ein abgebrochener Flaschenhals und eine welke braune Blume. Val meinte, sich daran zu erinnern, dass bei ihrem ersten Besuch andere bizarre Schätze darin gelegen hatten.
Schlagartig wurde ihr klar, wie aussichtslos ihr Unterfangen war. Woran sollte sie einen Beweis erkennen, selbst wenn er direkt vor ihr lag? Ravus könnte gewisse Dinge erkennen, ihren Nutzen und vielleicht einen Teil ihrer Geschichte, aber ihr sagte das alles nichts.
Es war schwer vorstellbar, dass Mabry sentimental war, aber vor Tamsons Tod, der ihren Hass geschürt hatte, war sie es wohl gewesen.
»Hey«, sagte Ruth aus dem nächsten Zimmer. »Komm mal her.«
Val folgte ihrer Stimme. Sie war im Musikzimmer, bei der Schoßharfe, die auf einer Ottomane in seltsam pinkigem
Leder stand. Der Korpus des Instruments war aus vergoldetem Holz, in das Laubverzierungen geschnitzt waren. Jede Saite hatte einen anderen Farbton. Die meisten waren braun, golden oder schwarz, aber einige wenige waren rot und eine war blattgrün.
Ruth ging daneben auf die Knie.
»Nicht...«, sagte Val, aber Ruth strich bereits über eine braune Saite. Urplötzlich erfüllte wehleidiges Geheul den Raum.
»Einst war ich Kammerzofe bei Königin Nicnevin«, setzte eine tränenreiche Stimme mit starkem, merkwürdigem Akzent an. »Ich war ihr Liebling, ihre Vertraute, und ich vergnügte mich damit, die anderen zu peinigen. Nicnevin hatte ein besonderes Spielzeug, einen Ritter vom Seligen Hofe, den sie gar zu gern hatte. Die Tränen seines Hasses bedeuteten ihr mehr als die Liebesschwüre aller anderen. Ich wurde vor die Königin zitiert - sie verlangte zu wissen, ob
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