Elfenkind
Stunden werden schwer für dich sein. Dein Vater wird nicht akzeptieren, was du bist. Versuch am besten hier im Zimmer zu bleiben. Sag einfach, du wärst krank.»
Er machte einen Schritt auf sie zu und fast glaubte sie schon, dass er sie küssen wollte. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Hopser. Doch dann hielt er in der Bewegung inne und strich ihr nur einmal mit der Rückseite seines Zeigefingers über die Wange.
«A bientôt, ma petite elfe . Bis morgen Abend.»
Er griff seinen Mantel und verschwand in einer geschmeidigen Bewegung hinter dem Vorhang.
«Frédéric!» Aliénor stürzte am Bett vorbei zum Fenster, aber als sie den Vorhang zur Seite schob, war da nichts. Sie schaute hinaus. Nichts. So schnell konnte er doch unmöglich verschwinden?
Wie auch immer, er war fort und sie wusste eigentlich immer noch nicht, wer verdammt noch mal er überhaupt war und warum er Dinge wusste, die wie ein Erdbeben über sie hereinstürzten.
Sie starrte aus dem Fenster. Am Horizont zeigte sich schon das erste Morgenrot. Die Nacht war vorbei und ein neuer Tag erwartete sie. Ein Tag, an dem nichts mehr so sein würde wie vorher.
Das Frösteln, das sie empfand, hatte nichts mit der kühlen Morgenluft zu tun, die ihre nackte Haut streifte. Es war eine innere Leere, ein Gefühl des Verlassenseins. Überrascht erkannte sie, dass sie Frédéric schon jetzt vermisste, wo er kaum gegangen war. Er hatte etwas in ihr zum Leben erweckt, was sie noch nie zuvor gespürt hatte. Sie konnte es kaum erwarten, ihn heute Abend wiederzusehen.
Plötzlich wurde ihre Zimmertür brutal aufgerissen und sie wirbelte erschrocken herum. Ein tiefer grollender Schrei erfüllte das Haus, als Geoffrey seine Tochter anschaute.
14
Aliénor verharrte vor dem Fenster, den Vorhang in ihrem Rücken, hinter dem Frédéric so plötzlich verschwunden war. Ihr Vater stand wie angewurzelt im Türrahmen. Beide starrten sich an, wie sich zwei Menschen ansehen, die glauben, sich zu kennen und einander plötzlich vollkommen fremd sind.
Die Situation überstieg bei weitem Aliénors Verstand. Warum war ihr Vater so böse, wirkte aber nicht überrascht? Warum stürzte er überhaupt um diese Uhrzeit in ihr Zimmer? Auf einmal fiel ihr ein, dass sie immer noch nackt war.
Ihr erster Impuls war, zum Bett zu stürzen, sich mit ihrem Nachthemd, einer Decke, irgendetwas zu bedecken. Doch dann entschied sie sich dagegen. Geoffrey war ungebeten und zu unmöglicher Stunde in ihr Zimmer gedrungen. Er würde damit leben müssen, sie so zu sehen. Frau oder Elfe – sie schämte sich nicht für das, was sie war.
Aber Geoffrey schien ihre Nacktheit überhaupt nicht zu interessieren. Er stürzte mit wenigen Schritten auf sie zu, packte sie grob an beiden Oberarmen und begann sie anzuschreien.
«Was hast du getan? All die Jahre habe ich versucht, dich davor zu beschützen!» Er schüttelte sie, als wäre sie eine Puppe und starrte über ihre Schulter hinweg auf ihre Flügel.
Aliénor hatte keine Ahnung, wovon er sprach, aber sie würde sich ganz sicher nicht so von ihm behandeln lassen.
«Lass mich los! Du tust mir weh!» Energisch wand sie sich aus seinem Griff.
«Warum jetzt?» Seine Stimme überschlug sich vor Zorn. «Du ruinierst deine ganze Zukunft.»
Aliénor zitterte. So hatte sie ihren Vater noch nie erlebt. Sie kannte seine Wutausbrüche, wenn er sich in einem cholerischen Anfall über irgendetwas aufregte. Aber seit er sie einmal geschlagen hatte, als sie elf Jahre alt war, hatte er nie wieder Hand an sie gelegt.
Frédérics Worte schossen ihr durch den Kopf. «Du bist nicht mein Vater. Warum habt ihr mir verheimlicht, dass ich von euch adoptiert wurde?» Ihre Stimme überschlug sich beinahe.
Geoffrey runzelte verdutzt die Stirn.
«Verdammt noch mal. Woher weißt du das?», zischte er wütend. Sein Gesicht lief rot an vor Zorn, seine Lippen hingegen schimmerten bläulich und erschienen Aliénor plötzlich besonders schmal. Sein heißer Atem streifte ihr Gesicht und ihr wurde übel davon.
Geoffrey versuchte, wieder nach ihr zu greifen. Sie wich ihm aus, konnte jedoch nicht verhindern, dass er ihren Unterarm packte. Seine Stimme wurde noch lauter und drohender. «Woher? Wieso weißt du davon?»
«Ist das wichtig?» Er machte nicht einmal den Versuch, es zu leugnen. Also war es tatsächlich wahr. Frédéric hatte recht gehabt.
Schritte waren zu hören. Sekunden später stand Chantal im Zimmer und sah entsetzt von einem zum anderen. «Geoffrey! Um Himmels willen.
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