Elfenkind
Was machst du? Lass sofort Aliénor los!»
Sie stürzte auf Geoffrey zu, packte ihn am Arm und versuchte ihn von Aliénor wegzureißen, als sie plötzlich die Flügel bemerkte. Sie riss ungläubig die Augen auf. «Oh mein Gott! Was ist denn das?», flüsterte sie.
Geoffrey schaute sie mit verzerrter Miene an, lockerte jedoch nicht seinen Griff an Aliénors Arm. «Geh hinaus, Chantal. Ich befehle es dir. Das hier ist eine Sache, die nur Aliénor und mich etwas angeht.»
Aliénor sah ihrer Mutter an, wie schockiert sie war und dass sie kaum ihren Augen traute.
«Aliénor, um Himmels willen, sind diese … diese Dinger wirklich echt?» Ganz offensichtlich überforderte die Situation den Verstand ihrer Mutter, denn sie schüttelte unentwegt den Kopf. Aliénor konnte es ihr nicht verdenken. Sie fühlte sich selbst auch komplett überfordert.
«Chantal, geh. Das hier ist eine Sache, die ich alleine regeln werde», polterte Geoffrey, für einen Moment abgelenkt. Aliénor nutzte die Gelegenheit, sich von ihm loszumachen. Sie ging einen Schritt auf ihre Mutter zu.
«Maman, …», begann Aliénor, doch ihre Mutter ließ sie nicht aussprechen. Langsam wie eine Schlafwandlerin kam sie auf Aliénor zu. Sie streckte eine Hand aus, wie um die Flügel zu berühren.
«Mon Dieu, ma fille! Was ist mit dir geschehen? Was hat das zu bedeuten?»
«Es wird alles wieder gut, maman », sagte Aliénor und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.
«Oh ja, ich werde dafür sorgen, dass alles wieder in Ordnung kommt!» Geoffreys schneidender Tonfall ließ Aliénor zusammenzucken.
Er riss Chantal von Aliénor weg und stieß sie grob in den Sessel. Ehe Aliénor begriff, was er vorhatte, hatte er sie bereits bäuchlings auf das Bett geworfen, sich auf ihre Beine gekniet und begann, ihr die Flügel herauszureißen.
Aliénor schrie, so laut sie konnte. Sie strampelte und schlug mit den Händen nach ihm, versuchte, sich ihm zu entwinden. Doch sie hatte keine Chance. Ihr Vater war zu stark, in der eindeutig besseren Position und drückte sie brutal auf das Bett herunter.
Sie hörte das Knacken, als er wie wild an ihren Flügeln zerrte. Der Schmerz war schier unerträglich. Doch offensichtlich war das so zart aussehende Gerüst stabiler als sie geglaubt hatte. Es schien ihn einige Mühe zu kosten, doch dann konnte sie die ersten irisierenden Teile neben dem Bett zu Boden fallen sehen.
«Nein! Nein, lass mich», kreischte sie und schlug weiter wild um sich.
Chantal warf sich schreiend von hinten auf ihn, klammerte sich an seine Schultern und versuchte, ihn rückwärts von Aliénor wegzuziehen, aber er versetzte ihr einen Stoß mit dem Ellenbogen, der sie nach hinten straucheln ließ. Aliénor hörte ein Krachen. Scheinbar war ihre Mutter hart gestürzt.
Geoffrey war erbarmungslos. Und trotz Aliénors erbitterter Gegenwehr landeten ihre Flügel Stück für Stück auf dem Fußboden oder auf ihrem Bett. Ihr Schreien und ihr Kampf schienen ihn nicht zu interessieren. Es war, als existierte sie als Person überhaupt nicht. Er fluchte nur laut, weil es wohl schwieriger war, als er es sich vorgestellt hatte.
Aliénor blieb fast das Herz stehen, als er auf einmal ein starkes Messer in der Hand hielt, um damit nachzuhelfen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, um ihr Leben zu kämpfen und vielleicht tat sie das auch. Doch was auch immer sie versuchte, sie konnte es nicht verhindern: Mit kräftigen Hieben schlug er auch noch die letzten die Reste ihrer Flügel ab.
Dann war es vorbei.
Keuchend ließ Geoffrey ab von ihr, zog Chantal brutal an einem Arm hoch und schob sie aus dem Zimmer. Sie leistete keinerlei Widerstand. Die Zimmertür wurde von draußen zugeworfen. Aliénor hörte, wie beide gemeinsam die Treppe hinunter polterten. Ihre Mutter schluchzte leise vor sich hin, dann war es auf einmal totenstill.
Aliénor rollte sich wie ein Embryo auf ihrem Bett zusammen. Zitternd zog sie ein paar Bruchstücke ihrer Flügel, die auf der Decke neben ihr lagen, zu sich heran und drückte sie an ihre Brust. Die Tränen, die sie die ganze Zeit mit aller Macht zurückgehalten hatte, flossen über und liefen ihr über die Wangen.
Der physische Schmerz in ihrem Rücken war nichts gegen den, der in ihrem Innersten tobte. Was war nur in den Mann gefahren, den sie bis heute Papa genannt hatte? Warum war er so wütend und warum hatte er das getan?
Dann ein noch viel beängstigenderer Gedanke: War sie jetzt, nach dem Verlust ihrer Flügel, etwa wieder
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