Elfenkind
Rücken inspizieren kann.»
Aliénor starrte ihn nur ungläubig an. Was sollte das denn jetzt werden?
«Der Doktor wird dich untersuchen», erklärte Geoffrey ihr kurz. «Zieh deine Sachen aus und leg dich hin.»
Aliénor fügte sich. Eine Weigerung hatte wohl kaum Sinn. So entschlossen wie Geoffrey auftrat, würde er gewiss vor einer weiteren Gewaltanwendung nicht zurückschrecken.
Der Arzt betrachtete sie mit professioneller Distanziertheit. «Ich werde Ihnen nicht wehtun, Mademoiselle», versicherte er ihr. «Erschrecken Sie nicht, meine Hände sind etwas kalt.» Er löste das Tuch, das sie noch immer um den Oberkörper trug. Routiniert tasteten seine Finger über ihren Rücken, ihre Schultern, den Flügelansatz ihrer Schulterblätter.
«Die Verwandlung ist mächtig», stellte er mit nüchternem Tonfall fest. «In wenigen Stunden werden die Flügel nachgewachsen sein.»
«Dann werden Sie ihr diese Dinger eben herausschneiden.» Aliénor blieb bei Geoffreys Erwiderung beinahe das Herz stehen. Es schien unmöglich, dass er es ernst meinte, doch er fuhr ausdruckslos fort: «Ich habe sie nicht großgezogen und von allen Einflüssen ferngehalten, um jetzt vor irgendwelchen Genen zu kapitulieren.»
Der Doktor tastete weiter, legte seine Hände flach auf Aliénors Rücken, drückte mal hier, mal dort. Aliénor war wie erstarrt. «Nein, das Risiko ist zu groß. Es ist alles zu stark verändert. Rippen, Schulterblätter, alles hat sich perfekt angepasst. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Und wenn … eine OP wäre langwierig und kompliziert. Ich glaube nicht, dass wir es riskieren sollten. Besser Sie finden sich …»
«Welche Risiken?», unterbrach Geoffrey den Arzt schroff.
«Hört auf, ich werde dem niemals zustimmen!», schrie Aliénor, die endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte. Sie setzte sich abrupt auf und knotete sich das Tuch wieder um die Brust. Sie wusste, dass das dünne Seidentuch sie nicht würde schützen können, aber sie fühlte sich nackt einfach noch mehr im Nachteil.
Geoffrey trat vor sie und beugte sich zu ihr herunter, sodass sich fast ihre Nasen berührten. «Ach ja? Und wie willst du das verhindern? Hast du dir schon überlegt, was für eine Zukunft dir mit Flügeln bevorsteht? Freust du dich schon auf eine Existenz als Versuchsratte in einem Forschungslabor?»
Geoffrey wandte sich mit einem unwilligen Knurren von ihr ab und Aliénor stieß die angehaltene Luft aus. Ihre Gedanken rasten. Sie musste einen Ausweg finden. Ihr war selbst noch völlig unklar, wie es weitergehen sollte. Aber eins wusste sie genau: Sie würde niemals zulassen, dass dieser Arzt ihre Flügel wegoperierte.
«Welche Risiken, Doktor?», wiederholte Geoffrey.
Er würde niemals aufgeben. Aliénor hätte am liebsten laut geschrieen, aber sie wusste genau, es hätte ihr nichts genützt. Ihr einziger Ausweg war die Flucht, falls sie dazu überhaupt noch Gelegenheit erhielt. Was danach kam … darüber würde sie später nachdenken.
«Die Risiken sind nicht heilende Wunden, mangelnde Beweglichkeit der Arme und des Rückens», zählte der Arzt emotionslos auf. «Es ist schwer, diese komplizierten Gelenke zu rekonstruieren. Ihre Tochter könnte sogar dabei sterben. Nirgendwo ist ein Eingriff dieser Art dokumentiert. Ich weiß nicht, wie stark die Gene sind und kann daher nicht ausschließen, dass die Verwandlung danach vielleicht wieder von neuem beginnt.»
Aliénor hatte sich mittlerweile umgedreht und auf die Bettkante gesetzt. Ihre Mutter war weiß wie die Wand. Wie sie selbst sich fühlte, schien im Augenblick niemanden wirklich zu interessieren. Dafür war sie sogar dankbar. Je weniger sie beachtet wurde, desto eher ergab sich vielleicht die Möglichkeit zu entkommen.
«Machen Sie es oder nicht?», zischte Geoffrey.
Der andere Mann schüttelte den Kopf. «So interessant der Fall auch ist, ich muss leider ablehnen.»
«Sie haben jahrelang für Vampire gearbeitet. Tun Sie jetzt also nicht so, als hätten Sie irgendwelche Skrupel.»
Aliénor hob den Kopf, um den Arzt genau anzusehen. Er hatte für Vampire gearbeitet? Sie wusste selbst nicht, warum sie das jetzt noch überraschte. Eigentlich sollte all ihre Fähigkeit zur Überraschung schon längst aufgebraucht sein. Und schließlich war sie eine Elfe. Warum also sollte es nicht auch Vampire geben?
Zum ersten Mal zeigte der Arzt einen Anflug von Emotionen. «Zügeln Sie Ihre Zunge, Vampirjäger!», sagte er scharf. «Ich bin Ihnen nichts schuldig und ich
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