Elfenkind
sie, ebenfalls auf Französisch, allerdings der modernen Variante.
«Man ruft mich Tyrin. Woher kommst du und wohin willst du?»
Aliénor merkte sehr wohl den musternden, neugierigen, aber zugleich auch verunsicherten Blick des Elfen. Sie lachte auf. Die erste Begegnung mit ihresgleichen.
«Ich will zum Château des Fleurs», antwortete sie, jetzt, wo sie die Elfen offensichtlich gefunden hatte, deutlich erleichtert.
«Aha. Und was willst du dort? Wir erwarten niemanden.»
Besonders freundlich und gesprächig war er ja nicht gerade.
«Bringst du mich hin?»
«Ich weiß nicht.» Der Elf verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, streng und abweisend zu schauen. «Fremde sind dort unerwünscht.»
Aliénor reckte sich ein bisschen. Sogar ihre Flügel streckten sich breiter aus. Sie stellte sich einfach vor, dass sie imposant aussah und es ihr gelingen würde, auf ihn Eindruck zu machen. «Ich bin aber keine Fremde, sondern ein Familienmitglied.»
«Ach, ja? Und wieso kennen wir uns dann noch nicht?»
«Vielleicht weil meine Familie vor langer Zeit ausgewandert ist?»
«Ausgewandert?» Der Elf wirkte deutlich skeptisch. «Also gut, komm mit. Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, wenn sie dich hinauswerfen.» Er winkte ihr, ihm zu folgen, hob vom Boden ab und flatterte leichtgewichtig wie ein Schmetterling davon.
«Halt, warte. Ich kann nicht so gut fliegen.»
Der Elf wendete und stand wie ein Kolibri vor ihr in der Luft. Seine Flügel bewegten sich so schnell, dass sie fast nicht mehr zu erkennen waren. «Was? Du willst eine Elfe sein und kannst nicht richtig fliegen?»
Das Blut schoss über ihre Wangen bis zu den Ohren. Wie gut, dass es dunkel war und er sie gegen den Lichtkegel der Taschenlampe kaum erkennen konnte. Zwar hatte sie es in den letzten Tagen geschafft, mehr Kontrolle über ihre Flügel zu gewinnen, aber weit geflogen war sie noch nicht.
«Ich – ich habe einen Tasche dabei, die ich tragen muss. Das ist zu schwer zum Fliegen.»
«So so. Komische Sache. Nun gut, dann flattere ich halt langsamer. Komm jetzt.»
Während Aliénor sich also weiter über den unebenen Pfad mühte, zog Tyrin vor ihr über den Weg hinweg seine Flugbahn wie ein besoffen torkelnder Falter. Es war Aliénor schleierhaft, woher er wusste, wo es entlang ging. Es kam ihr vor, als gingen sie kreuz und quer durch den Wald, ohne ein festes Ziel. Schließlich lichtete sich der Wald ein wenig, zu einem schmalen Streifen zwischen den Bäumen.
Tyrin schwebte zielstrebig voraus, wobei seine nackten Füße die oberen Grasspitzen streiften, die sich dabei geschmeidig zur Seite neigten. Aliénor hinterließ eine niedergedrückte Schneise in dem feinen Waldgras, das sich hinter ihr nur langsam wieder erhob.
Ihr Weg wirkte fast wie eine Allee, bestehend aus hohen Birken, die sich mit ihren weißen Stämmen kontrastreich vom übrigen Wald abhoben. Am Ende war ein Gebäude zu erahnen, vom morgendlichen Zwielicht verschluckt. Nur die Umrisse zeichneten sich gegen den rötlichen Himmel ab.
Das Château des Fleurs. Weiß und majestätisch, mit filigranen Türmchen und Erkern, verspielten Stuckreliefs und hohen, mit bunten Butzenscheiben verglasten Fenstern, erhob es sich inmitten eines Blumenmeers. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages streiften das Dach und die gelb glasierten Ziegel glänzten im Licht.
Staunend blieb Aliénor stehen. «Das sieht ja aus wie ein Märchenschloss», murmelte sie. «Sag mal, wie ist es möglich, so etwas Schönes geheim zu halten? Wieso kennt niemand dieses Château?»
Tyrin gab ein ungläubiges Lachen von sich und umkreiste Aliénor wie eine Motte das Licht.
«Du bist vielleicht komisch. Verstehst du denn gar nichts von Elfenmacht? Natürlich ist das Château des Fleurs mit Elfenmagie geschützt, so wie das gesamte Reich oder meinst du, wir wollen unerwünschte Besucher?» Er landete vor ihr im Gras und starrte sie an. «Ich bin gespannt, wer du wirklich bist. Niemand hat bisher den magischen Zaun durchbrochen.»
Es klang so, als ob er das ernst meinte und sein rechtes Lid zuckte einige Male nervös. Hatte er etwa mehr verraten, als er durfte? Nun, falls es diesen ominösen Zaun geben sollte, so hatte sie jedenfalls nicht bemerkt, wann und wo sie diesen passiert hatte.
Je näher sie der Blumenwiese kamen, desto lauter wurde das Summen. Es mussten Abermillionen von Bienen und Hummeln sein, die hier dem Sammeln von Pollen und Nektar nachgingen.
Der Wald war um das Schloss
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