Elfenkrieg
das Fläschchen an der Innenseite ihres Umhangs verschwinden. »Ich werde wiederkommen«, versprach sie und erhob sich. »In der Zwischenzeit umwickelt ihre Hände mit Verbänden aus Mondsichelkraut und zieht ihr darüber die Handschuhe an. Sagt auch den anderen Bescheid. Es wird das Gift etwas aufhalten.«
»Ich danke Euch.« Die Elfe kniete vor ihr auf dem mit Stroh bedeckten Boden. »Wir alle verdanken Euch so vieles.«
Nicht genug. Es war niemals genug. Sie konnte nicht allein gegen all das Leid bestehen. Es waren zu viele Opfer zu beklagen. So viele, denen sie nicht helfen konnte.
Der langanhaltende Klang des Gongs auf dem Marktplatz hallte aus der Ferne zu der Siedlung vor den Stadtmauern. Der Laut schwang noch einige Augenblicke lang in der unbewegten Luft, ehe erneut Stille einkehrte.
Vinae trat aus der Hütte und blinzelte in das grelle Licht der Sonne in Richtung Acre, der Hauptstadt des Sonnentals, die sich in ihrer weißen Pracht an eine Hügelflanke klammerte und von dort das Tal überblickte.
»Was mag das bedeuten?« Die Feldarbeiterin gesellte sich zu ihr und hielt sich die Hand an die Stirn, um nicht geblendet zu werden.
»Ich weiß es nicht.« Doch es verhieß bestimmt nichts Gutes. Dieser Klang hatte nur selten etwas Gutes zu bedeuten.
Mit flauem Gefühl im Magen sah Vinae sich in der Siedlung um, welche nicht mehr als eine Ansammlung provisorischer Holzhütten war, die sich unweit der Stadt vor den Feldern ausbreiteten. Solche Siedlungen gab es hier auf dem flachen Land überall, und in jeder herrschte Leid.
Das Signal war kaum jemandem entgangen, denn immer mehr Elfen strömten hinaus in die Nachmittagssonne und blickten mit einer Mischung aus Angst und Neugierde in RichtungOsten. Dorthin, wo sich in der flimmernden Hitze ein Reiter gegen den hellen Stein der Stadtmauern am Fuße des Hügels abzeichnete. Er preschte aus dem offen stehenden Tor und verließ sofort die gepflasterte Straße, die in einem Bogen nach Süden führte, fort von den Feldern. Über einen der vielen Trampelpfade, welche die Wiesen durchzogen, kam er direkt auf die Siedlung zu. »Deremirs Hinrichtung!«, rief er und hob seinen Arm, bevor er eine Schleife ritt und in die andere Richtung davonstürmte. »Deremirs Hinrichtung!«
Vinae erstarrte. Das war doch nicht möglich! Die letzte öffentliche Hinrichtung lag Jahre zurück, seit die Königin ein neues Gesetz erlassen hatte, dass nur sie selbst ein Todesurteil verhängen durfte und über jeden Angeklagten durch einen ihrer Abgesandten Gericht gehalten werden musste. Zuvor waren Hinrichtungen Teil des Alltags gewesen, doch seit diesem Erlass gab es kaum noch Gefangene, die zum Tode verurteilt wurden. Die Zahl der Vermissten war jedoch drastisch gestiegen.
»Lasst das Mädchen noch etwas ruhen«, sagte sie zu der Elfe neben ihr und stürmte auf ihr Pferd zu, das angebunden an einem Pfahl neben der Hütte stand. Sie durfte keine Zeit verlieren.
»Herrin Thesalis?« Die Frau lief ihr hinterher. »Tut das nicht. Ihr riskiert zu viel für uns.«
»Es ist noch lange nicht genug.« Vinae schwang sich in den Sattel und ließ dem Pferd die Zügel frei, das sofort loslief.
Wie der Wind flog sie an den Hütten vorbei, quer durch das Flachland und erreichte die Straße, die durch das Tor in die Stadt führte. Die Wachen an den Wehrgängen hatten keine Gelegenheit, ihr zuzunicken, wie sie es für gewöhnlich taten, denn Vinae zischte bereits an ihnen vorbei, folgte der leicht ansteigenden Straße in Richtung Schloss, wo sie schon bald von derMenge verschluckt wurde. Die Elfen drängten sich so dicht auf dieser einzigen Straße, dass ein Weiterkommen zu Pferde unmöglich war. Zumindest nicht, ohne jemanden zu verletzen. Deshalb sprang Vinae aus dem Sattel, ließ ihr Pferd zurück und lief in eine der dunklen Seitengassen hinein, welche in der gesamten Stadt so schmal waren, dass sich die Wände der Häuser beinahe berührten und sie diese mit ausgestreckten Armen zu beiden Seiten anfassen könnte. Die Häuser von Acre waren allesamt aus weißem Stein erbaut und boten mit ihren flachen Dächern ein schnelles und diskretes Fortkommen, das Vinae auch dieses Mal nutzte.
Dort, wo die Mauern besonders schmal zueinanderführten, sprang sie an eine der Hauswände, stieß sich ab und landete an der gegenüberliegenden Seite. Dies wiederholte sie einige Male, bis sie hoch genug war, um die Regenrinne zu erreichen. Mit beiden Händen klammerte sie sich daran fest, biss die Zähne bei
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