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Elfenlicht

Elfenlicht

Titel: Elfenlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Hennen
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trug die blaue Kutte der Ordensbrüder. Seine Kapuze hatte er zurückgeschlagen, und man sah deutlich sein rabenschwarzes Haar. »Ja, ich glaube, es ist Bruder Jules.«
    Der Abt blickte zum Himmel hinauf. »Ich danke dir für diese Prüfung, Tjured.« Er seufzte. »Mach die Läden dicht und komm runter. Wir werden heute früher speisen.«
    Lucien war ein seltsamer Mann, dachte Guido. Jeder im Refugium freute sich, wenn Jules zu Gast war. Die Brüder und Schwestern hingen gebannt an seinen Lippen, wenn er von den langen Wanderungen erzählte und von den vielfältigen Wundern Gottes. Nur Lucien wurde nie von dieser Begeisterung ergriffen. Vielleicht war er eifersüchtig auf Jules. Vielleicht hatte er auch Angst, der Wanderer könne etwas über seine Vergangenheit erzählen. Es gab viele Gerüchte über Lucien. Es hieß, er sei in seiner Jugend ein Krieger gewesen.
    Guido lauschte, bis die schweren Schritte des Abtes auf der Stiege verklungen waren. Dann begann er leise vor sich hin zu pfeifen. Und es war nicht etwa ein frommes Lied, sondern eine beschwingte Weise über ein Mädchen, das stets alles bei sich trug, was es brauchte, um seinen Geschäften nachzugehen.
    Der Miniaturenmaler prüfte gut gelaunt, ob die Tintenfässer wohl verschlossen waren, und schnippte dann ein Stück Taubenkot von einem Fenstersims. Gedankenverloren betrachtete er die Berge, und die Erkenntnis der Größe Gottes ließ ihm die Brust eng werden. Voller Inbrunst schenkte er Tjured ein Gebet. Weil die Welt so ein wundervoller Ort war. Weil Gott ihn von Lucien erlöst hatte, dessen einziger Fehler wohl war, dass er sich gern predigen hörte. Und weil Gott ihnen Bruder Jules geschickt hatte. Kein anderer Ordensbruder war so berühmt wie Jules der Wanderer. Es war unmöglich, ihn nicht zu mögen. Dort, wo er Gast war, kehrte Freude ein. Er war ein lebender Heiliger und keiner dieser sauertöpfischen Prediger, die einem den kleinsten Spaß im Leben missgönnten. Nein, er war gänzlich anders. Er machte deftige Scherze, zechte gerne, war zugleich ein Quell niemals versiegender Weisheit und ein Mysterium. Vor zwei Jahren war er einmal hier gewesen und hatte sich für drei Wochen im Allerheiligsten des Refugiums eingeschlossen. Ohne Speisen, ja selbst ohne etwas zu trinken, hatte er diese Zeit verbracht. Und als er von seiner Zwiesprache mit Gott zurückkehrte, da wirkte er frisch und ausgeruht, so als habe es ihm die langen Wochen über an nichts gefehlt. Bruder Tomasin, der versucht hatte, es Bruder Jules in seiner Frömmigkeit gleichzutun, war am vierten Tag ohne Wasser zusammengebrochen. Er war krank geworden und wäre vielleicht sogar an dem bösen Fieber gestorben, das ihn befallen hatte, hätte Jules ihn nicht geheilt, als er aus seiner Klausur im Allerheiligsten zurückkehrte.
    Guidos Blick wanderte durch die Schreibstube. Alle Tische waren aufgeräumt. Man fühlte sich geborgen in einer Welt, in der Ordnung herrschte. Er sah zu den fernen Berggipfeln.
    Selbst so spät im Frühjahr waren die weißen Kappen nicht gewichen. Manchmal, an stürmischen Tagen, sah man den Schnee wie einen Schleier um die Wipfel schweben.
    Die näher gelegenen Klippen und Steilhänge strahlten im Abendlicht in einem warmen Rotgold. Wie Nester klammerten sich die Weinterrassen an die Hänge. Der Mons Gabino lag weit entfernt von den Intrigen des Königshofs. Wer hierher wollte, der musste vier Tage lang durch karges Bergland wandern. Ihr Refugium war der Welt entrückt. Es war ein fast vollkommener Ort, um mit sich, seinen Gedanken und der Kunst des Miniaturenmalens in Harmonie zu leben. Der einzige Makel an ihrer wunderbaren Gemeinschaft bestand darin, dass ihnen noch keine Kinder geboren worden waren. Obwohl auch zehn Ordensschwestern zu ihrer Gemeinschaft gehörten, blieb ihnen der Kindersegen verwehrt.
    Guido entzündete eine Öllampe und zog die schweren Holzläden vor die Fenster. Dann stieg er langsam die steile Stiege hinab. Die Kammer unter der Schreibstube war völlig dunkel. Hier lagerten die Schriften des Refugiums. Es war eine wundervolle Sammlung. Mehr als dreihundert Bücher! Die größte Bibliothek des Königreichs, wahrscheinlich sogar der Welt!, dachte der Ordensbruder stolz. Ein Schatz, kostbarer als eine Kammer voll Gold. Welch ein Gottesgeschenk war die Schrift! Sie erlaubte, noch nach Jahrhunderten von der Weisheit der Ahnen zu zehren. Und sie trennte Lüge und Wahrheit. Wie viele verschiedene Geschichten gab es schon jetzt über den Tod des

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