Elfenlicht
Staunend sah Guido, wie der Wanderer dessen linken Fuß richtete. Dann legten sich seine großen, von der Sonne gebräunten Hände um den rechten Fuß. Wieder erklang das schreckliche Knacken. Jacques stieß einen kurzen, schrillen Schrei aus. Auch der Wanderer zitterte. Sein Antlitz war von Schweiß bedeckt. »Bitte erhebe dich, Bruder«, sagte er mit schwacher Stimme.
Jacques weinte. Unsicher stemmte er sich auf seinen Krücken hoch. Als er mit dem rechten Fuß auftrat, spiegelte sich fassungsloses Staunen in seinen Zügen.
»Gib mir die Krücken«, sagte Jules mit warmer Stimme. »Ich weiß, du wirst sie in deinem Leben nie wieder brauchen.« Er sagte das mit der Bestimmtheit eines wahren Heiligen, der um die Pläne Gottes wusste. Eines Auserwählten unter den Lebenden.
Einem Augenblick stummen Staunens folgte unbeschreiblicher Jubel. Guido drängte sich nach vorne. Auch er wollte Jules berühren, wollte dem lebenden Heiligen seine Bewunderung zeigen.
»Lasst uns beten und Tjured für dies Wunder danken!«, tönte die Stimme des Abtes. Lucien hatte die Arme gehoben und versuchte, dem Tumult Einhalt zu gebieten. Doch er musste die Brüder und Schwestern noch dreimal zur Ruhe ermahnen, bis es endlich stiller wurde.
»Ich bin kein junger Mann mehr, Jules«, sagte der Abt feierlich. »Ich habe vieles in meinem Leben gesehen. Manche hier wissen um die Taten meiner Jugend. Taten, auf die ich heute nur noch mit Scham zurückblicken kann, denn ich war einer aus der Schar der Stierköpfe des Königs Cabezan. Und ich habe meine Hände in das Blut Unschuldiger getaucht ...«
Seine Schultern bebten. Lucien rang mit den Tränen. »Ich war Zeuge eines Wunders und habe mich versündigt. Und ich danke Gott, dass ich noch einmal Zeuge seines Wirkens werden durfte.«
Einen Herzschlag lang tauschten Jules und der Abt einen Blick, den Guido nicht zu deuten wusste. Es schien ihm, als warne der Wanderer den Abt stumm, weiter zu sprechen.
»Ich danke euch für euer Lob und eure Freude, die mein Herz erwärmt«, sagte Jules sodann. »Doch vergesst nicht, ich bin nur das Gefäß, in das Gott seine Kraft fließen lässt. Lobt ihn und beschämt mich nicht. An diesem Tag seid ihr Auserwählte unter den Kindern Gottes. Euch ist es bestimmt, zu Zeugen seiner Kraft zu werden. Doch nun lasst uns gemeinsam das Brot brechen und uns an den Gaben Gottes laben. Wie leicht vergisstman im Überfluss, dass Speise und Trank ein Geschenk sind, das Tjured uns jeden Tag gewährt. Feiern wir Gott mit einem Mahl zu seinen Ehren.«
Es war der Abt selbst, der Jules zur Tafel geleitete und darauf bestand, dass dieser seinen Platz einnahm. Lucien ließ sich darauf zur Rechten des Wanderers nieder und reichte ihm das frische, dampfende Brot, das eilig aus der Küche gebracht wurde. Es herrschte eine fröhliche Stimmung an der Festtafel.
Der sonst so griesgrämige Jacques stand auf und sang aus voller Brust ein Lied zu Ehren Gottes. Jacques hatte eine schöne, tiefe Stimme, und Guido war zu Tränen gerührt, seinen Ordensbruder so glücklich zu sehen. Das Einzige, was ihn während des Mahls betrübte, war der Anblick Mariottes. Seit sie vor zwei Jahren ins Refugium gekommen war, war er ihr verfallen. Nie hatte er eine Frau von solcher Schönheit gesehen. Ihr Haar war golden wie die Lichtbahnen, die an einem schönen Sommertag durch das Laubdach eines dichten Waldes fielen. Ihre Lippen waren rot wie Walderdbeeren, voll und sinnlich, und so verführte ihn ihr Anblick während des gemeinsamen Essens zu den verrücktesten Tagträumen. Oft schon hatte er den Becher beneidet, dem es vergönnt war, von diesen Lippen berührt zu werden. Manchmal, wenn sie das Geschirr abspülten, stand er dicht neben Mariotte und atmete ihren Duft. Sie roch wie die Pinienwälder, die sie durchstreifte, wenn sie nach Kräutern und Pilzen für die Vorratskammern des Refugiums suchte.
Letzten Winter hatte der Abt entdeckt, dass Guido sich erlaubt hatte, auf einer seiner Miniaturen der Mutter des heiligen Guillaume Mariottes Antlitz zu geben. Zur Strafe für diese Sünde hatte Guido in der Eiseskälte drei Tage barfuß gehen müssen. Doch Mariottes Bild hatte er nicht übermalen müssen...
Teigtaschen, gefüllt mit weißem Käse, gebratener Paprika, Zwiebeln und Lammfleisch wurden aufgetragen. Doch Guido hatte keinen Blick für diese Köstlichkeiten. Er betrachtete Mariotte und wünschte sich, dass sie ihn nur ein einziges Mal so ansehen würde, wie sie Bruder Jules ansah.
Jules
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