Elfenlicht
schien ihre Bewunderung gar nicht zu bemerken. Die Augen aller waren auf ihn gerichtet und er scherzte mit seinen Nachbarn bei Tisch.
Dann stand er auf. Schlagartig wurde es still im Speisesaal.
»Liebe Schwestern, liebe Brüder. Ich danke euch von ganzem Herzen für dieses freundliche Willkommen. Mein Herz quillt über vor Freude, und ich muss euch sagen: Ich bewundere die Arbeit, die ihr im Refugium vollbracht habt, das zu einer Oase inmitten der Wüstenei der Berge erblüht ist. Und doch ist es bei all unseren Mühen Tjured, der letztlich über unser Schicksal entscheidet. Euch scheint er zu lieben, so reich, wie ihr beschenkt wurdet, und ich möchte euch bitten, mit mir gemeinsam zur Mitternacht eine Messe im Allerheiligsten auszurichten. Lasst uns unsere Freude dem Himmel entgegenrufen, meine Schwestern und Brüder. Lasst uns Gott zeigen, dass auch wir ihn lieben. Feiern wir ihm zu Ehren!«
Der Vorschlag sorgte für einige Aufregung, und selbst Lucien gab seine Zurückhaltung auf, als beratschlagt wurde, wie man Gott danken sollte.
DIE MITTERNACHTSMESSE
Verdrossen blickte Guido durch die offene Tür zum Nachthimmel auf. Der Mond war gerade hinter den Wolken hervorgekommen und tauchte das Refugium in silbernes Licht. Deutlich zeichnete sich der Schattenriss des Tempelturms gegen den hellen Himmel ab. Wieder verschwand eine kleine Gruppe seiner Ordensbrüder durch das hohe Portal, verschluckt von dem finsteren Turm.
Guido biss die Zähne zusammen, so stark war sein Wunsch zu fluchen. Es war nicht mehr lange bis Mitternacht. Missmutig beobachtete er den dünnen Faden aus Sand, der durch das Stundenglas rann. Bald würde die feierliche Messe beginnen. Wahrscheinlich waren jetzt schon alle unten im Allerheiligsten. Nur er saß hier und wartete, weil der Abt entschieden hatte, ihn für seine Eitelkeit büßen zu lassen. Es war ungerecht, bestraft zu werden, weil man seine Arbeit mit Hingabe verrichtete! Dann würde er in Zukunft eben genauso dahinstümpern wie die anderen Miniaturenmaler, dachte er zornig und wusste zugleich, dass ihn der Abt dann bestrafen würde, weil er nicht all sein Können in den Dienst des Refugiums stellte.
In jeder anderen Nacht hätte er den Tordienst einfach abgesessen. Ja, er hätte sich wahrscheinlich am Glanz der Sterne erfreut und die Stille genossen. Es gab schlimmere Strafen als eine durchwachte Nacht. Doch heute war das anders. Im Refugium herrschte eine Aufregung wie in einem Bienenstock vor dem Flug der jungen Königin. Alle bemühten sich nach Kräften, die Dankesmesse zu einem unvergesslichen Ereignis zu machen. Ganze Bündel von Kerzen waren zum Allerheiligsten hinabgetragen worden, um die Höhle taghell zu erleuchten. Eben noch hatten die Ordensschwestern im Kräutergarten gesungen und ihre Lieder für die Messe eingeübt. Mariotte war die Vorsängerin des kleinen Frauenchors. Ihre Stimme war so schön, dass einem ganz weh ums Herz wurde, wenn man ihr lauschte. Doch die Sängerinnen waren gegangen, und Guido hätte sich nicht einsamer fühlen können, wäre er der einzige Mensch in diesem schroffen Bergland gewesen.
Irgendwo, jenseits der hohen Mauer aus Bruchstein, die das Gelände des Refugiums umfasste, war der Ruf eines Steinkauzes zu hören. Leise flüsterte der Wind in den Dachtraufen.
In der engen Kammer des Torwächters hatte sich die Wärme des Frühlingstages gehalten. Obwohl es nachts immer noch empfindlich kalt wurde, war es hier angenehm. Hin und wieder spähte Guido durch das schmale, vergitterte Fenster, das auf den steilen Pfad blickte, der hinauf zur Pforte des Refugiums führte. Natürlich war niemand zu sehen. Nur wenige Wanderer kamen in diesen Teil der Berge. Dass ein Gast zu so später Stunde an die Pforte des Refugiums kam und um Einlass bat, war mehr als unwahrscheinlich. Guido lebte nun schon seit fünf Jahren hier auf dem Mons Gabino, und er konnte sich nicht erinnern, dass in dieser langen Zeit jemals mitternächtlicher Besuch gekommen wäre.
Ein Schatten löste sich vom Hauptgebäude und eilte mit weiten Schritten dem Pförtnerhaus entgegen. Das Mondlicht ließ die Glatze des Abtes aufleuchten und schmeichelte dessen entstellten Zügen.
Guido schnaubte ärgerlich. Damit war zu rechnen gewesen, dass die hässliche Krähe noch einmal vorbeisah und kontrollierte, ob er hier seiner Pflicht nachkam.
»Ich wache an der Pforte, wie du es befahlst!«, rief er dem Abt entgegen und gab sich auf spöttische Weise wie ein Krieger, der zur Nachtwache
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