Elfenlicht
hören. Oder er wollte es nicht. Noch immer knurrte er, während mit Tomasin eine unheimliche Veränderung vor sich ging. Seine Haut begann zu schrumpeln, als altere er mit jedem Herzschlag um ein ganzes Jahr.
Inmitten der Gefangenen erhob sich eine kristallklare Stimme. Mariotte! Sie sang von Tjured, dem Licht, vor dem alle Schatten vergehen mussten. Und die Verzweifelten hoben ihre Häupter. Luciens volltönender Bass schloss sich dem Lied an. Eine dritte Stimme fiel ein.
Guido konnte die Macht des Liedes spüren, das sich gegen die finstere Magie des Wanderers stellte. Der Miniaturenmaler wollte hinab, doch seine Füße verweigerten ihm den Dienst. Sie standen still, als seien sie auf der steinernen Stufe festgenagelt. Selbst seine Zunge gehorchte nicht mehr seinem Willen. Er wollte mit seinen Brüdern und Schwestern singen. Er wollte wenigstens seine Stimme mit den anderen vereinen, wenn er schon nicht bei ihnen sein konnte. Doch auch dieser Trost blieb ihm verwehrt.
Der Wurm aus Licht erreichte das Dunkel. Tomasin hatte seine Augen so verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Wie unheimliche Lichter erstrahlten sie in einem Gesicht, aus dem alles Fett geschmolzen war. Jetzt spannte sich seine Haut straff über den Schädelknochen. Sein Kopf erinnerte Guido an die Köpfe längst verstorbener Priester, die er in den steinernen Grüften und den Tempeltürmen der großen Städte gesehen hatte. Doch Tomasin lebte noch. Er versuchte mit verzweifelter Anstrengung seine Arme zu heben. Die Finger griffen nach dem Lichts das aus seinem Leib troff. Sie versuchten vergeblich, es festzuhalten.
Ein hechelnder Laut drang aus der Finsternis jenseits der Pforte aus Licht. Der Schatten wurde lebendig und gebar eine Kreatur, die sich gebückt und lauernd aus der Dunkelheit schob. Schwarz wie eine mondlose Winternacht war sie. Und sie folgte dem Licht, das der Wanderer Tomasin entrissen hatte. Gierig verschlang das Geschöpf der Finsternis den leuchtenden Wurm.
Tomasin hatte es aufgegeben, um sein Lebenslicht zu kämpfen. Seine Kutte war ihm halb von der knochigen Schulter gerutscht. Der stattliche Mann, der Guido noch beim Abendmahl gegenübergesessen hatte, war nicht mehr wiederzuerkennen.
Eine zweite Kreatur schob sich aus der Finsternis. Eine dritte und vierte folgten ihr in kurzem Abstand. Sie stritten um den Lichtwurm und verschlangen ihn binnen Augenblicken. Zuletzt weinte Tomasin blutige Tränen. Jules löste seinen Bann und ließ den sterbenden Priester zu Boden sinken.
Als die Schattengestalten ihr grausiges Mahl beendet hatten, begannen sie um den großen Kreis zu schleichen, in dem die übrigen Priester gefangen waren. Wo sie versuchten, den Bann zu durchbrechen, griff weißes Licht nach ihren Schattenleibern, und sie zuckten ängstlich zurück.
Jules mieden sie. Guido konnte nicht erkennen, ob sich der Wanderer mit einem Zauber umgeben hatte oder ob etwas an ihm war, das die Kreaturen der Finsternis fürchteten.
Trotzig sangen die Brüder und Schwestern von der Allmacht Tjureds. Guido konnte sehen, dass Mariotte, wie vielen anderen auch, Tränen in den Augen standen. Verzweifelt versuchte er, sich von der Stelle zu rühren. Obwohl er noch immer wie angewurzelt stand, gehorchte ihm zumindest wieder seine Zunge. Er bettelte und fluchte! Er bot Tjured seine Seele zum Tausch gegen das Leben von Mariotte an. Er forderte von Gott, den falschen Ordensbruder in himmlischem Feuer zu verbrennen.
Jules schien mit den Kreaturen zu sprechen. Welchen Pakt schmiedete der Verräter mit der Finsternis? Der Gesang übertönte seine Worte. Nur die Bewegung seiner Lippen verriet, dass er sprach. Und dann deutete er auf den Kreis. Jules zeigte auf Lucien und dann auf Mariotte und zwei andere Ordensbrüder.
Mit einem Ruck, der ihn fast straucheln ließ, kam Guido frei. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang er die Treppe hinab. Er konnte jetzt nichts mehr sehen. Schreie mischten sich unter den Gesang. Was geschah dort unten?
Guido schlug hart mit der Schulter gegen den Felsen, als er sich auf der Treppe vertrat. Er stürzte. Die Treppenstufen schlugen ihn grün und blau. Schützend umklammerte er seinen Kopf, als ein letzter, harter Schlag ihm die Luft aus den Lungen trieb.
Benommen blinzelnd sah er sich um. Er war in der Höhle. Zwei Schritt waren es noch bis zum Bannkreis. Die Schatten waren in den weiten Bannkreis eingedrungen. Noch immer sangen die meisten seiner Brüder und Schwestern, die Häupter in
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