Elfenlicht
eingeteilt war.
Lucien gebot ihm mit einer Geste zu schweigen. »Das ist jetzt nicht die Zeit für Scherze, Guido. Der Besuch von Jules hat mir die Augen für meine Sünden geöffnet. Vergiss all deine Arbeiten, denn von morgen an wirst du noch einmal an der Vita des heiligen Guillaume schreiben. All die Jahre, die ich zu Tjured gefunden habe, schweige ich nun schon. Doch es wäre falsch, die Wahrheit allein auf den Erinnerungen eines Kindes zu gründen. So sehr ich Bruder Jules auch schätze, der gewiss Großes für die Kirche tut, kann ich nicht länger dulden, dass seine Geschichte um den Tod des heiligen Guillaume als einzig wahrhaftiger Bericht gilt.«
Der Abt fuhr sich mit dem Finger über die grässliche Narbe. »Ich kenne die meisten Geschichten, die ihr über mich erzählt. Die Wahrheit ist viel schrecklicher als alles, was ihr euch ausdenken könnt. Diese Wunde hat mir ein Fjordländer mit einem Bart rot wie Flammen zugefügt, und es ist ein Wunder Gottes, dass ich diesen Axthieb überlebt habe. Noch heute sehe ich diesen Kerl in meinen Albträumen. Und so sehr es mich beschämt, muss ich gestehen, dass es dieser Heide war, der an jenem Tag für Tjured stritt und nicht ich.«
Das plötzliche Geständnis des Abtes verwunderte Guido. Und was gab es an der Geschichte von Bruder Jules falsch zu verstehen? »Was geschah an dem Tag, an dem Guillaume starb?«
Lucien blickte sich gehetzt um, als befürchte er, belauscht zu werden. »Ich gehörte zu Cabezans Stierköpfen, die nach Aniscans kamen, Guido. Wir sollten Guillaume holen, weil Gott unseren König mit einer grässlichen Krankheit gestraft hatte. Vergiss alles, was du über diesen Tag zu wissen glaubst. Ich war Zeuge der Ereignisse. Es waren nicht die Elfen, die den Heiligen töteten.« Der Abt stockte. »Ich gehöre zu den Mördern. Jede Nacht büße ich in meinen Träumen für die Bluttat. Morgen werde ich dir alles erzählen. Wir müssen die Kirche von der Lüge reinigen. Guillaume ist unser bedeutendster Heiliger. Wir müssen die Legenden um seinen Tod von Lügen reinwaschen, sonst werden schreckliche Dinge geschehen, Guido. Nichts, das auf Lügen begründet ist, kann zu etwas Gutem erwachsen. Jedes Mal, wenn ich bete, habe ich Angst, dass mich ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel erschlagen wird, weil ich die Lüge dulde. Ich bin als ein Sünder zu Tjured gekommen, und all die Jahre habe ich es nicht gewagt, meinen Ordensbrüdern zu widersprechen, wenn es um den heiligen Guillaume ging. Was hätte ich auch sagen sollen? Ihr irrt euch, Brüder! Ich weiß es besser, denn ich gehörte zu jenen, die den Heiligen ermordeten! Ich kann verstehen, wenn Jules sich als Kind eine andere Geschichte zurechtgelegt hat. Die Wahrheit ist zu schrecklich! Und jedes Mal, wenn ich Jules begegne, fürchte ich, dass er mich wieder erkennen könnte. Ich werde mich ihm heute nach der Messe offenbaren. Und morgen wirst du für mich niederschreiben, was wirklich in Aniscans geschehen ist.«
»Warum hast du mich ausgesucht, um mir all dies zu sagen?«, fragte Guido stockend. Der Gedanke an die Ausmaße der Lüge, der die Kirche folgte, hatte ihn fast sprachlos gemacht.
»Weil du einen wachen Verstand hast. Weil du mit mir streitest, wenn du glaubst, dass ich im Unrecht bin. Und weil du so wunderbare Handschriften anfertigst. Die Wahrheit soll auf feinstes Pergament geschrieben stehen, und zwar in einer Schrift ohne Schnörkel und Fehl. Ich will, dass wir ein Buch erschaffen, so wunderbar und makellos, als hätten es die Engel geschrieben. Dann wird niemand an den Worten zweifeln. Denn glaube mir, die Lüge ist schon so mächtig geworden, dass es schwer werden wird, sie zu töten. Bete, Guido. Reinige deine Seele, so wie ich es nun in der Messe tun werde.«
Er ergriff Guidos Rechte mit beiden Händen, drückte sie fest und schenkte ihm sein unheimliches Lächeln, das vor so langen Jahren für immer aus der Form geraten war. »Morgen werden wir zu Rebellen der Wahrheit werden, Guido. Unsere Seelen werden durch ein reinigendes Feuer gehen und all das Fett abschwitzen, das sie in der Trägheit des falschen Glaubens angesetzt haben. Die Gläubigen müssen erfahren, dass die Elfen Lichtgestalten sind und keine Geschöpfe der Finsternis. Keine Dämonen wie auf den Bildern, die du erschaffen hast.«
Der Miniaturenmaler erwiderte den Händedruck. »Meine Feder wird dein Schwert sein, Bruder Abt.« Guido fühlte sich ein wenig benommen. Die Wirklichkeit hatte sich schneller
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