Elfenliebe
unsere Grenzen bedroht, pflanzen wir Samen – so wie dich. Als wir dich zu deinen Eltern gaben, erwarteten wir von dir zunächst nur das, was alle Elfen tun – dort wo wir dich hingepflanzt hatten, zu gedeihen. Deine Aufgabe bestand einzig und allein darin, zu leben, zu wachsen und das Land zu erben. Zu diesem Zweck hast du eine lückenlose menschliche Identität erhalten, was uns hilft, unsere Transaktionen vor den Orks zu verbergen. Wir wollten dich nicht eher in die Akademie zurückholen, bis du nach menschlichen Maßstäben erwachsen wurdest.
Nun aber wirst du eine aktivere Rolle erhalten.« Jamison legte eine Hand auf ihren Arm und Laurel spürte
plötzlich ein inneres Zittern. »Etwas arbeitet gegen uns, Laurel, gegen unser Land und unser Volk – und die Zeit ist nicht auf unserer Seite. Deshalb musst du deine Wurzeln ausstrecken. Du musst gegen einen tosenden Fluss ankämpfen – als was auch immer er sich herausstellen mag. Wenn du das nicht …«
Er brach plötzlich ab und blickte aus dem Panoramafenster über Avalon, dessen Gefilde sich unter ihm ausbreiteten. Es dauerte eine Weile, bis er weitersprach.
»Wenn du das nicht schaffst, wird all das hier, fürchte ich, in sich zusammenstürzen.«
»Ihr meint die Orks«, sagte Laurel, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Es geht um Barnes.« Sie hatte diesen Namen sehr lange nicht mehr ausgesprochen – seit Dezember hatte sie weder von ihm gehört noch etwas gesehen. Doch aus ihren Gedanken war er nie ganz verschwunden. Nach ihrem Zusammenstoß im vergangenen Herbst hatte sie sich vor jedem Schatten erschreckt und vorsorglich um jede Ecke gespäht.
»Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass er allein gehandelt hat«, sagte Jamison. Er drehte sich wieder zu Laurel um und sah sie aus seinen blassblauen Augen an, die denselben Farbton hatten wie die Wurzeln seiner silbernen Haare. »Dieser Wahrheit solltest du dich auch stellen.«
»Und wer könnte mit ihm gemeinsame Sache machen? «, fragte Laurel.
»Das wissen wir nicht«, antwortete Jamison. »Wir wissen nur, dass Barnes lebt und irgendwo da draußen ist.«
»Aber er kann mich nicht mehr benutzen. Und er
kann mich nicht dazu bringen, ihm das Land zu verkaufen«, sagte Laurel protestierend.
Jamison lächelte traurig. »Wenn es doch so einfach wäre! Barnes kann dich noch immer für vieles einspannen. Zwar weiß er, wo das Land, aber nicht, wo das Tor ist. Er könnte dich dazu benutzen, es zu finden.«
»Warum muss er das wissen? Könnte er nicht einfach mit seinen Horden anrücken und den ganzen Wald niederreißen?«
»Das könnte er versuchen, aber unterschätze nicht die Fähigkeiten unserer Wachtposten – und auch nicht die Robustheit unseres Tores und die magischen Kräfte der Winterelfen. Das Tor kann zwar theoretisch zerstört werden – aber das würde schon eine unglaublich konzentrierte Kraft erfordern. Und wenn er nicht den exakten Standort des Tores findet, kann er es nicht zerstören.«
»Ich würde es ihm doch nie verraten«, sagte Laurel inbrünstig.
»Das weiß ich. Und ich gehe davon aus, dass er das ebenfalls weiß. Aber das wird ihn nicht davon abhalten, sich so oder so an dir zu rächen. In keinen anderen Wesen ist der Gedanke der Rache so fest verankert wie in Orks. Der Wunsch nach Rache ist in ihnen lebendiger als beinahe jedes andere Gefühl. Allein aus diesem Grund wird er nach dir suchen.«
»Warum hat er es dann bisher nicht gemacht?«, fragte Laurel. »In den letzten sechs Monaten hätte er jede Menge Gelegenheiten dazu gehabt.« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er doch tot.«
Aber Jamison schüttelte den Kopf. »Hast du schon einmal eine Venusfliegenfalle beobachtet?«, fragte er.
Innerlich kicherte Laurel, als sie sich an ein Gespräch mit David über Fliegenfallen erinnerte. »Ja«, antwortete sie. »Meine Mom hatte eine, als ich klein war.«
»Und hast du dich jemals gefragt, warum die Fliegenfalle überhaupt in der Lage ist, Fliegen zu fangen? Die Fliege ist schneller, sieht die Gefahr von Weitem und könnte mit Leichtigkeit fliehen. Logisch gedacht, müssten sämtliche Fliegenfallen verhungern. Aber warum tun sie es nicht?«
Laurel wusste es nicht.
»Weil sie Geduld haben. Sie sitzen reglos da und sehen ganz harmlos aus. Sie tun nichts – bis die Fliege, die selbstvergessen umherwandert, sich im Herzen der Falle niederlässt. Erst wenn die Beute kaum noch entkommen könnte, rührt sich die Venusfliegenfalle. Orks sind genauso geduldig, Laurel.
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