Elfenlied
interpretierend vor, überlässt es aber dem Leser, möglichen Varianten nachzuspüren, indem die einzelnen Zeichengruppen im Druckbild so voneinander abgesetzt sind, dass unschwer andere Fügungen ermöglicht werden. Außer der favorisierten Lesart werden im Folgenden stets noch zwei Varianten angeboten. Nur an wenigen Stellen ist unsicher, ob einzelne Zeichen dem Verfall zum Opfer gefallen sind. Mit behutsamer Zurückhaltung sind in solchen Fällen Ergänzungen in eckigen Klammern hinzugefügt worden.
Die Formgestaltung der Gedichte scheint trotz aller Kürze äußerst variabel zu sein. Neben Endreimen finden sich Binnenreime, immer wieder Alliterationen und selbst freie Rhythmen. Übertragen in die unserem Auge gewohnte Form lesen sich manche Gedichte als zwei – oder auch dreizeilig, die meisten aber formen die vertraute Gestalt des Vierzeilers. Doch selbst fünf – und sechszeilige Lesarten mit sehr prägnanten Diktionen sind durchaus denkbar. Zeilensprünge oder Enjambements schaffen ungewohnte Sinnverbindungen. Schließlich vermitteln vielerlei Neologismen, also Wortschöpfungen, überraschende Bilder und Metaphern, und geben einen Eindruck vom Reichtum der Blütenfeenlyrik, die bisher keinem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden konnte. Das lyrische Ich erfasst seine Welt in einer uns mikrokosmisch erscheinenden Perspektive.
Der glücklichen und bei der Blattlyrik von Blütenfeen wohl einmaligen Überlieferungslage ist es zu verdanken, dass die Gedichte in der Reihenfolge ihres Entstehens vorliegen. Aus der Kenntnis der Lebensumstände Mondblütes lässt sich auf Zäsuren schließen, die mit entsprechenden Kapitelüberschriften gekennzeichnet sind. Es mag sein, dass sich dahinter ein Ordnungssystem verbirgt. Zusammen mit dem Initiierungsgedicht, das Mondblüte von Sternleuchte geschenkt wurde, ergibt sich ein Abschnitt von fünf Gedichten, die von der Begegnung der beiden Blütenfeen erzählen. Es folgen Gedichte der Trauer um die verlorenen Eltern. Daran schließen sich sechs Gruppen von etwa gleich vielen Gedichten an, die das Entstehen, Erblühen und Vollenden von Mondblütes Liebe besingen. In der letzten, etwas größeren Gruppe wird die Trauer um Sternleuchte und Blütenstern zum Gegenstand. Das letzte Gedicht lässt ahnen, dass nicht nur Mondblütes Leben, sondern auch ihre Berufung als Lyrikerin »vor der Zeit« endet.
In der Thematik sind die Gedichte trotz aller Kürze auch als vielseitig zu betrachten. Es gibt viele rein lyrische Gedichte, die die Zeitlosigkeit des Augenblicks einfangen und ein Gefühlsspektrum von höchstem Glück bis zu tiefster Trauer umfassen, aber auch sehr verspielt und selbst erotisch sein können. Eine stattliche Anzahl von Gedichten zeichnet sich durch erzählerische Elemente aus und markiert so den Verlauf der wenigen Monde aus dem Leben Mondblütes. Eine kleine Gruppe von Blattgedichten schließlich hat fast aphoristischen Charakter, erinnert an Spruchdichtung.
Ob das lyrische Erbe Mondblütes typisch für Blütenfeenlyrik ist, dürfte schwer zu entscheiden sein. Sehr ungewöhnlich ist in jedem Fall, dass sie mit dem Schreiben ihrer Gedichte schon im Sommer begann, während ansonsten bekannt ist, dass Blütenfeen hauptsächlich zu der Zeit des Blätterfalls – des Herbstes – dichten. Danach aber setzt sie ihr poetisches Werk sogar noch bis zu den letzten Wintertagen fort. Verstehen wir es so, wie Mondblüte es in ihrem letzten Gedicht anklingen lässt: Sie hat ihr kurzes Leben sehr verdichtet gelebt und ein einmaliges Erbe hinterlassen.
In der Bibliothek zu Iskendria findet sich die umfangreichste Sammlung von Blütenfeengedichten. Seit vielen Jahren arbeitet der berühmte Lyrikforscher Gengalos an der Erhaltung der Texte, da die Blätter dem schnellen Verfall ausgeliefert sind. Gelegentlich beschäftigt er auch Gäste der Bibliothek mit der Sicherung der Gedichte. Gengalos hat sich ebenso der Frage gewidmet, an welche lyrischen Traditionen diese Gedichte anknüpfen könnten, oder ob sie doch eher als autarke poetische Erscheinung betrachtet werden müssen.
Vieles spricht für die letztere Möglichkeit. Bei lediglich einem Gedicht Mondblütes könnte ein Anklang an sehr alte Verse vermutet werden. Aus einer längst ausgestorbenen Sprache der Menschen stammen die folgenden Zeilen:
Habent omnes volucres nidos inceptos nisi ego et tu. Quid expectamus nunc.
Davon existiert eine alte Übersetzung eines Menschenvolks, das im Nordosten von Fargon
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