Elfenlord
ihm. Er blieb abrupt stehen und hielt sich keuchend am Geländer fest. Einen Augenblick später setzte er atemlos hinzu: »Sie gehen zurück auf die Zeit der Großen Verfolgung. Rote Priester des Rötelflügels haben hier unten ihre Leichen versteckt, damit sie nicht gefressen wurden. Und haben sich hier versteckt, damit sie nicht selbst zu Leichen wurden. Nicht besonders raffiniert angelegt, aber sehr gut verborgen. Der Besitzer des Hauses weiß nicht einmal, dass diese Katakomben existieren: Dafür habe ich gesorgt, als ich das Haus gemietet habe. Nicht, dass ich ernsthaft geglaubt hätte, er wisse etwas. Ich habe selbst auch nur durch ein seltenes altes Manuskript von ihnen erfahren.« Er begann wieder, die Stufen hinunterzusteigen.
Chalkhill kam ein Gedanke und er fragte: »Wohnst du hier unten, Silas?«
»Da kannst du Gift drauf nehmen, dass ich hier unten wohne«, sagte Brimstone. »Glaubst du, ich lasse etwas so Wichtiges länger aus den Augen, als ich unbedingt muss?«
»Was ist denn hier so Wichtiges, Silas? Was denn?«
»Das wirst du schon sehen.«
Brimstone erreichte den Fuß der Treppe und blieb dann schwer atmend stehen. Finsternis allein wusste, wie deralte Narr es anstellen wollte, wieder hinaufzukommen. »Ist alles in Ordnung, Silas?«, fragte Chalkhill mit falscher Besorgnis.
»Du musst Hairstreak gewaltig verärgert haben«, sagte Brimstone. »Er will, dass ich dich umbringe.«
Der Treppenaufgang endete in einem Bogengang, der grob aus dem Fels gehauen war. Alle paar Meter befanden sich Nischen in den Wänden, in denen Schienbeinknochen und Schädel lagen. Das war nicht gerade raffiniert, wie Brimstone gesagt hatte, aber sehr effektvoll. Chalkhill vermutete, dass sie jetzt unterm Fluss sein mussten, und doch war alles knochentrocken. Er überlegte, ob er die Treppe wieder hochrennen sollte – die Chance, dass Silas ihn erwischen könnte, war gleich null. Aber stattdessen fragte er neugierig: »Wirst du das tun?«
Brimstone schnüffelte. »Nicht sehr wahrscheinlich. Bei diesem kleinen Geschäft kann ich dir mehr trauen als ihm.«
»Was für ein kleines Geschäft?« Chalkhill runzelte die Stirn.
»Das will ich dir ja gerade zeigen«, sagte Brimstone. Als sich sein Atem wieder beruhigt hatte, ging er weiter den Gang entlang. Auch hier musste er Lichtzauber angebracht haben, denn beim Gehen wurde es hell. »Bleib dicht bei mir«, rief er hinter sich. »Dieser Ort kann verwirrend sein, wenn man sich nicht auskennt.«
Chalkhill zögerte einen Sekundenbruchteil, dann folgte er ihm.
Es war, wie Brimstone gesagt hatte, verwirrend. Der Bogengang verwandelte sich schnell in ein Labyrinth beengter Tunnelröhren, die sich von Zeit zu Zeit zu kleinen Kammern wölbten und gelegentlich zu Beinhäusern erweiterten. Überall lagen Knochen und Schädel. Der ganze Ort roch nach Moder.
Nachdem er die Treppe hinter sich gelassen hatte, wurde er wieder etwas munterer und eilte einigermaßen zügigvoraus. »Beinahe da«, rief er ihm über seine Schulter hinweg zu.
Sie erreichten eine Kammer, die ganz offensichtlich in den letzten Jahren umgebaut worden war. Eine schwere metallverkleidete Tür war an einem Ende in die Wand eingelassen worden.
Brimstone holte einen mächtigen Schlüssel heraus. »Setz deine Brille auf«, befahl er. Er zog eine schwere verdunkelte Schutzbrille aus der Tasche und machte sie vorsichtig an seinen Ohren fest.
Wie Brimstone war auch Chalkhill ein Nachtelf. Er holte seine Brille heraus – mit einem kunstvollen Ormolu-Gestell in barocker Form, zögerte aber. »Hier unten ist nicht viel Licht.«
»Mach es einfach«, sagte Brimstone. Er steckte den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn mit einiger Anstrengung. Dann packte er die Klinke und zog die massive Tür auf.
Chalkhill fiel die Kinnlade herunter, als er in den Raum starrte.
EINUNDDREISSIG
B lue zögerte in der Tür. Comma war ein so abstoßendes Kind gewesen, eine Petze, ein Prahlhans, ein Heimlichtuer. Natürlich liebte sie ihn – er war schließlich ihr Halbbruder –, aber es gelang ihr einfach nicht, ihn zu mögen. Es schien beinahe so, als wäre die Veränderung über Nacht eingetreten, sowohl was sein Temperament als auch was sein Aussehen anbelangte. Er hatte abgenommen, war gewachsen, und plötzlich war er ein gut aussehender junger Mann, voll neu entdeckter Höflichkeit, Sensibilität und Verständnis. Damals war Commadas abstoßende Kind. Jetzt war Comma … jetzt war Comma …
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