Elfenlord
prähistorischen Tsunamiwelle verschlungen worden war. Henry wollte einen Schrei der Begeisterung ausstoßen, aber er hielt seinen Mund fest geschlossen und lauschte stattdessen auf seinen pochenden Herzschlag.
Vor ihnen ließen sich die Anführer des Stammes abrupt auf einen bröckelnden Pflasterstreifen sinken. Jetzt steuerten sie plötzlich aufrecht gehend auf die emporragenden Gebäude zu. Henry empfand einen Augenblick lang Panik, als er sie einholte – was war hier los? –, aber dann, ohne Vorwarnung, stieß er durch eine Art von unsichtbarer Membran und sank leicht wie eine Daunenfeder selber auf das Pflaster hinab.
Er lief mit ein paar zögerlichen Schritten hinter den anderen her und machte die merkwürdige Erfahrung, zu erleben, wie er schwerer wurde. Aber das Seltsamste war, dass er so etwas schon einmal erlebt hatte: wenn er als Kind das Badewasser aus der Wanne herausgelassen hatte und liegen geblieben war. Während er dalag und das Wasser ablief, wurde sein Körper – nicht länger vom Wasser getragen – schwerer und schwerer, bis er wieder sein normales Gewicht angenommen hatte. Genauso war das jetzt auch, nur dass er diesmal aufrecht stand.
Lorquin tauchte neben ihm auf, fröhlich wie immer. »Wir sind zu Hause«, sagte er, plötzlich wieder ohne das geringsteDelfinzwitschern. »Hier leben wir.« Er lächelte Henry breit an. »Du kannst hier auch leben«, sagte er. »Weil du mein Gefährte bist.«
VIERUNDSECHZIG
M adame Cardui war nie zuvor in der Gegenwelt gewesen und sie brauchte nicht einmal eine halbe Stunde, um zu dem Schluss zu kommen, dass es ihr dort nicht gefiel.
Das Schlimmste war die absolut grässliche Kleidung, die sie tragen musste. Überhaupt kein Stilgefühl, kein Sinn für Schnitt oder Farben. Und natürlich keine Textilzauber. Also hingen die Sachen mit dem Schwung von Haferschleim an einem herunter.
»Was ist das denn?«, fragte sie kalt, als Nymph ein ganz besonders abstoßendes Kleidungsstück hervorholte.
»Hosen«, sagte Nymph kurz angebunden.
Das Mädchen machte sich Sorgen um Pyrgus. Sie machten sich beide Sorgen um Pyrgus. Aber dennoch … »Männerkleidung?«, fragte Madame Cardui sie. »Du denkst, ich könnte mich für Unisex erwärmen?«
Nymph schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Madame Cardui. Dies ist keine Männerkleidung. Dies ist Teil eines Kostüms. Hosen und ein Jackett. Gedämpfte Farben, dunklere Töne. Diese Art der Kleidung ist in der Gegenwelt sehr beliebt.« Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Besonders bei älteren Frauen.«
Madame Cardui sah sie böse an. »Dann trage ich sie natürlich erst recht nicht.«
Sie entschied sich schließlich für eine stark gerüschte Bluse, die am Hals offen war, für einen knöchellangen, weiten Rock und offene Sandalen. Als Farbakzent schlang siesich noch einen Seidenschal um. Das war zwar meilenweit entfernt von dem, was sie sonst zu tragen pflegte, aber es bewies wenigstens ein Mindestmaß an Flair. Nymph musterte sie unsicher. »Keine Diskussion«, sagte Madame Cardui kalt. Gewisse Formen musste man wahren, selbst in der Gegenwelt.
Der Übertritt war, wie sich herausstellte, eigentlich recht lustig. Sie hätte gern eines von Alans tragbaren Portalen benutzt – einfach zur Erinnerung –, aber er hatte, bevor er starb, nur sehr wenige davon gebaut, und sie alle waren mit diesem verhängnisvollen Fehler ausgestattet, der die Leute beim Übersetzen geradezu umkrempelte. Also trat sie mit Nymph in die kalten blauen Flammen des offiziellen Palastportals. Was mit dem Gefühl einherging, als würde sie von einer Klippe springen, etwas, das ihr merkwürdigerweise Freude bereitete.
Aber wie sie feststellen musste, war
Freude
nicht gerade das Wort, das einem sofort über die Lippen kam, wenn man die Gegenwelt beschreiben wollte. Für ihren Aufenthalt in dieser lächerlichen Dimension hatten Pyrgus und Nymph ein kleines Landgut gemietet, das – wenn auch nur einigermaßen – dem Status eines Elfenprinzen und seiner Gemahlin angemessen war. Aber das Haus war, wie sich herausstellte, auf Granit mit einer derart hohen Quarzkonzentration erbaut worden, dass die Portaltechnologie in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nicht funktionierte. Die jungen Leute wurden mit diesem Nachteil natürlich spielend fertig, und Nymph hatte für die Fahrt vom echten (und gut verborgenen) Portalausgang zu ihrem Haus vorgesorgt.
Madame Cardui starrte entsetzt auf die Kutsche. »Was ist das denn?«
»Das
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