Elfenmeer: Roman (German Edition)
Moment lang herrschte Schweigen, und Nayla sah, wie die Muskeln um seine Mundpartie zuckten. Eine böse Vorahnung ergriff sie.
»Nayla …« Da war Bedauern und Mitleid.
Nayla ließ ihren Kopf gegen Avrees Brust sinken. Ihr war so kalt.
»Es war keine Zeit«, drang Avrees Stimme in ihre Düsternis. »Ich konnte unmöglich nach ihnen suchen, um sie zu befreien. Es tut mir so leid.«
Ein Nicken war alles, was sie zustande brachte, während sie seinen vertrauten Geruch nach Feuer und Meer einatmete. Doch dann traf sie die Erkenntnis.
»Das Schiff …« Sie versuchte, ihren Kopf zu heben, doch ihr fehlte die Kraft. Ihr war bewusst, dass sie viel Blut verloren hatte, und obwohl Avree sie geheilt hatte, musste sie erst wieder richtig zu sich kommen. »Wer steuert das Schiff?« Es war unmöglich, einen Dreimaster allein seetüchtig zu machen, also wie war er aus dem Hafen gekommen?
»Straßenkinder«, antwortete Avree zu ihrer Überraschung und fuhr sogleich fort: »Ein ganzer Haufen Menschenkinder wartete am Hafen, und meine Flammen trugen sie übers Meer zu deinem Schiff. Ich griff nach ihnen …« Seine Stimme nahm einen verträumten, faszinierten Klang an, als könne er immer noch nicht fassen, was er da erzählte. »Ich konnte alle miteinander verbinden. Durch Magie. Ich war mächtig wie nie zuvor,ohne Gefahr zu laufen, die Kontrolle zu verlieren. So schob ich auch das Schiff aus dem Hafen. Ich brannte es hinaus, machte es zu einem Teil von mir!« Sein Griff um ihren Oberkörper wurde fester, er hielt sie umschlungen, und Nayla konnte seinen schnellen Herzschlag an ihrer Wange spüren. »In den letzten Tagen habe ich den Kindern ein paar Kniffe beigebracht, und sie werden zumindest imstande sein, das Schiff auf Kurs zu halten. Wenn wir erst einmal Koralle gefunden haben, holen wir ein paar Leute von der Freiheit , der Ewigkeit und der Goldzahn zu dir herüber, bis … bis du wieder eine eigene Besatzung hast.«
»Wohin segeln wir denn?«
»Zum Korallenpalast.«
Nayla zuckte zusammen. So oft hatte sie diesen Namen in den Stunden der Qual gehört. Wie komme ich zum Korallenpalast? Sag es mir! Wie weiche ich den Untiefen aus? Wo genau liegt der Korallenpalast?
»Er kann dir nichts mehr tun, Nayla. Er ist tot. Ich … ich habe ihn getötet. Er kann dir nichts mehr tun.«
Diese Worte sollten sie trösten, doch sie machten ihr nur noch mehr Angst. Avree hatte seinen eigenen Sohn getötet. Er würde nie wieder derselbe sein. Im Moment wollte sie aber nicht an Arn denken, denn es gab Wichtigeres.
»Avree, sie haben eine Karte.«
»Ich weiß.«
»Aber …« Sie schob sich ein wenig von ihm fort. »Sie werden den Palast angreifen, sie werden …«
»Deshalb segeln wir ja jetzt dorthin. Koralle ist bestimmt bereits dort. Er trifft Vorkehrungen. Wir werden die Menschen rechtzeitig in Sicherheit bringen.«
Nayla richtete sich auf, und zu ihrer Überraschung fühlte sie sich körperlich bereits etwas besser. »Die Rinieler werdennicht zögern. Sie werden sofort angreifen, sie …« Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Von einem Moment zum anderen wusste sie nicht mehr, was sie hatte sagen wollen, denn da waren nur Avrees blaue Augen, die sie erwartungsvoll ansahen. Avrees blaue Augen!
»Was …?« Sie fuhr zurück, als hätte sie sich an ihm verbrannt. Das war nicht Avree! Dieser Mann hatte dessen Stimme, dessen Gesichtszüge, sein feines sandfarbenes Haar, und er trug sogar ein rotes Piratentuch, aber das konnte doch nicht Avree sein! Avrees Augen waren blutrot – magisch rot!
»Schiffbruch, Sturm und Haifischdreck«, entfuhr es ihr, als ihr bewusst wurde, dass der Elf mit dem zaghaften Lächeln sehr wohl Avree war. Erneut begann sich alles um sie herum zu drehen, und ihr Oberkörper schwankte hin und her. Sie saß auf ihrem Bett, genauso wie Avree, doch eine unsichtbare Mauer schien sich zwischen ihnen aufzutun.
»Nayla …« Er streckte die Hand nach ihr aus, diese langen, feingliedrigen Finger, die sie so gut kannte, doch Nayla kamen sie plötzlich fremd vor. Wo war Avrees glutroter Blick? Was war geschehen?
»Ich muss dir etwas erklären.« Einen flüchtigen Moment lang sah er durch die Kapitänskajüte zum Wandschrank. Die Türen standen offen, und die durcheinandergeworfenen Krüge und Becher waren darin zu sehen.
»Ich weiß«, begann er zögernd, als hätte er Angst, die Worte auszusprechen, »die Magie war für dich immer …«
»Nein!« Nayla starrte ihn an, sah zurück zum Wandschrank und dann
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