Elfenmeer: Roman (German Edition)
wieder in Avrees blaue Augen. Mit einem Mal wurde ihr klar, was diese Veränderung zu bedeuteten hatte. Ihr Verstand begriff es, doch fassen konnte sie diese Wahrheit noch immer nicht. »Du kannst nicht …«
»Du hast den pulverisierten Schattenkristall in einen geschlossenenWasserschlauch gefüllt. Darin hast du ihn mit Wein vermischt. Diesen hast du in einen Kelch gegossen, aber es war immer noch genügend im Schlauch.« Er schluckte, und Nayla wurde unter diesem klaren Blick ganz anders. Er sah sie so durchdringend an, so hoffnungsvoll, dabei musste er sie doch hassen. Sie hatte ihn dazu getrieben.
»Du hast es getrunken«, flüsterte sie und schlug sich die Hand vor den Mund. Erst da bemerkte sie die fehlenden Finger, und sofort riss sie ihre Hand wieder weg. Aus großen Augen starrte sie auf ihren kleinen Finger und den winzigen Stummel des nächsten. Das war alles, was von ihren Fingern der rechten Hand geblieben war. Die Wunden waren geschlossen, verheilt, und Nayla war zu verwirrt, zu aufgeregt gewesen, um es zu bemerken. Vielleicht hatte sie den Anblick auch gefürchtet und ignoriert. Doch diese Geste des Entsetzens über Avrees Tat erinnerte sie an ihr eigenes grausames Schicksal.
Plötzlich schob sich Avrees Hand in ihr Blickfeld, diese weiße Hand, die so groß und sanft war. Behutsam legte er sie auf die ihrige, und Nayla musste unwillkürlich wimmern. Ihre Hand!
»Es tut mir so leid«, flüsterte er und verstärkte seinen Griff ein wenig. »Ich … Es tut mir so leid.«
Nayla schüttelte den Kopf, ihr ganzer Körper zitterte. »Ich werde lernen, damit umzugehen.« Sie durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Es waren nur Finger. Sie war noch am Leben, und somit hatte Avree seinen Schwur nicht erfüllen müssen. Auch er lebte noch, nichts anderes zählte.
Tränen flossen ihre Wangen hinab, und der Gedanke an Chip fraß sich in ihren Kopf. Er sollte jetzt doch Kapitän werden. Er sollte ihr Nachfolger sein. Doch er war nicht mehr unter ihnen. Ihr Bruder war fort und mit ihm ihre ganze Besatzung,und sie war keine Kapitänin mehr. Sie würde noch nicht einmal ein Schwert halten können, und das nur, weil irgendeine Liebste dieses Wahnsinnigen dieselben Verletzungen davongetragen hatte. Und Avree …
Nayla zwang sich aufzusehen und erkannte, dass Avree sie beobachtete. Helle Wimpern umrahmten die noch ungewohnten himmelblauen Augen, und erst jetzt, da sie genauer hinsah, bemerkte sie den leichten Hauch von Rot, der sich darüberlegte. Kaum mehr als ein durchsichtiger Schleier, der zeigte, wer er einst gewesen war. Doch der Feuerprinz war fort.
»Was habe ich dir angetan?« Sie konnte kaum noch sprechen, der Schock über ihre Hand verflüchtigte sich beim Gedanken an diese Schuld. Avree hatte seine Magie verloren.
»Es ist doch das, was du wolltest.« Seine Augenbrauen zogen sich ein wenig zusammen. »Nayla, du wolltest, dass ich es tue.«
»Nein … ja … ich weiß nicht.« Die unterschiedlichsten Gefühle brandeten in ihr auf, und keines war angenehm. Sie drohten sie zu ersticken, und plötzlich kam ihr ihr eigener Körper zu klein für diese großen Gefühle vor. »Ich hatte solche Angst«, brachte sie stockend hervor. Sie senkte den Blick und starrte auf ihren Schoß, in dem die verstümmelte Hand lag. Dieser Anblick war immer noch leichter zu ertragen als Avrees magielose Augen. »Ich hatte ständig nur Angst, und der Kampf gegen die Königin machte alles nur noch schlimmer. Ich fürchtete, dich zu verlieren, Avree. Ich hatte solche Angst, dich an das Feuer zu verlieren.«
»Jetzt musst du keine Angst mehr haben.«
Ein Schluchzen schüttelte ihren Körper, und als Nayla sich erneut die rechte Hand vor den Mund schlagen wollte, schrie sie verzweifelt auf. »Ich weiß nicht, ob ich das wirklich wollte!«, sprach sie die furchtbare Wahrheit aus und sah Avreenun doch ins Antlitz. »Vielleicht wollte ich damals ja, dass du mir auf die Schliche kommst! Vielleicht wollte ich aufgehalten werden! Ich weiß es nicht. Ich wollte doch einfach nur, dass du siehst … dass du verstehst …«
»Nayla.« Seine Stimme war so voller Zärtlichkeit, sie zerriss ihr das Herz. »Du hattest recht. Mit allem. Du hattest einfach recht.«
»Nein! Das hatte ich nicht! Die Magie ist … war ein Teil von dir, und ich habe ihn dir entrissen! Ich wollte doch einfach nur …«
»Du wolltest sicher sein.« Avree hob seine Hand und umschloss sacht ihre Wange. Eine zarte Berührung, unter der sie zu zerspringen meinte. »Die
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